BERLIN. Juso-Chef Kevin Kühnert fordert von der designierten SPD-Chefin Andrea Nahles Mut zu tatsächlicher Erneuerung und echten Reformen.
»Das Schlimmste wäre, wenn wir in einem halben Jahr wieder in den Alltagstrott verfallen würden und vergessen haben, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten im Erneuerungsprozess. Die Gefahr ist sehr groß«, sagte Kühnert der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. »Und es ist Aufgabe der Vorsitzenden, dagegen anzugehen.« Bei einigen Themen wie Hartz IV müsse die Partei grundlegend neue Antworten liefern. »Mit kleinteiligen Korrekturen ist es nicht mehr getan.«
Der Juso-Chef will für Nahles stimmen. »Das ist keine Jubelentscheidung, sondern eine sachliche Abwägung«, sagte er. Ob sie am Ende aber die richtige Person sei, um die Partei voranzubringen, könne er nicht mit absoluter Gewissheit sagen. »Bei den vergangenen Erneuerungsprozessen ist das immer wieder passiert, dass wir kollektiv weggedämmert sind«, kritisierte Kühnert. »Nun sind wir aber an einem existenziell wichtigen Punkt für die SPD angekommen. Wir können es uns schlicht und ergreifend nicht erlauben, noch einen Erneuerungsprozess in den Sand zu setzen.«
Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess angekündigt. Sie will sich am Sonntag beim Sonderparteitag in Wiesbaden zur SPD-Chefin wählen lassen - als erste Frau in der Geschichte der Partei. Der kommissarische SPD-Vorsitzende Olaf Scholz erwartet eine klare Mehrheit für die 47-Jährige. »Ich bin sehr optimistisch, dass Andrea Nahles ein gutes Votum auf dem Parteitag bekommen wird«, sagte er am Rande der Frühjahrstagung des IWF in Washington.
Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter ihrem damaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Infolge der harten Debatten über eine Beteiligung an einer weiteren großen Koalition gab und gibt es erhebliche Unruhe in der Partei. Als Gegenkandidatin von Nahles tritt Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange an.
Das Nahles-Lager setzt auf ein Ergebnis von 75 Prozent plus X. Bisher schnitt Nahles bei Vorstandswahlen schlecht ab. Sie erhielt beim Bundesparteitag 2007 in Hamburg mit 74,8 Prozent bei der Wahl zur stellvertretenden Vorsitzenden ihr bislang bestes Ergebnis. Von 2009 bis 2013 war sie Generalsekretärin der Partei, die Wahlergebnisse lauteten: 69,6 Prozent (2009), 73,2 Prozent (2011) und 67,2 Prozent (2013).
Kühnert wies darauf hin, dass Nahles am Sonntag die Favoritenrolle habe. »Insofern wäre es überraschend, wenn sie nicht gewinnen sollte.« Es gebe aber einige Delegierte, die auf Basis der Reden beim Parteitag noch überzeugt werden könnten für die eine oder die andere Seite. Er selbst wünsche sich eine Vorsitzende, die klare Vorstellungen davon hat, wie sie die Partei inhaltlich aufstellen will. »Bei Andrea Nahles sehe ich das Potenzial dafür.«
Kühnert räumte ein: »Ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob Andrea Nahles am Ende des Tages die Richtige sein wird.« Nach langer Abwägung traue er ihr allerdings eher zu, die Partei voranzubringen - »auch wenn sie nicht immer zu den gleichen Antworten kommen wird, wie ich oder die Jusos es tun«.
Dass Lange beim Parteitag gegen Nahles antrete, findet Kühnert positiv. »Ich glaube, es ist eine Kandidatur, die uns nützt, weil es daran erinnert hat, dass inhaltlicher Streit auf einem Parteitag auch in Form von Kandidaturen ausgetragen werden kann und dass das kein Drama ist, sondern Normalität in einer demokratischen Partei.« Langes Kandidatur habe außerdem gezeigt, »dass man eben nicht im Bundestag oder 20 Jahre im Parteivorstand sitzen muss, um Anspruch zum Mitgestalten zu erheben«. Das müsse normaler werden.
Wenn Nahles Parteichefin werde, erwarte er von ihr einen kooperativen Führungsstil - »dass sie unterschiedliche Meinungen einbezieht, dass sie Debatten nicht abmoderiert«. Vor allem setze er darauf, dass sie zukunftsgewandte programmatische Debatten vorantreibe.
Die zentrale inhaltliche Frage in den kommenden Monaten sei für ihn die Positionierung bei den Themen Arbeit und soziale Sicherheit. »Wir müssen wegkommen von bloßen Korrekturdebatten, sondern zum Teil grundlegend neue Antworten finden - zum Beispiel bei Hartz IV.« In den vergangenen Jahren sei die Partei nur ums Regierungshandeln gekreist. »Davon müssen wir weg.« (dpa)