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Ist Schottlands Unabhängigkeitsbewegung am Ende?

Nicola Sturgeon gilt als Gesicht der schottischen Unabhängigkeitskampagne. Doch seit dem Rücktritt der langjährigen Regierungschefin versinkt ihre Partei im Chaos.

Nicola Sturgeon
Nicola Sturgeon hatte Mitte Februar überraschend ihren Rückzug von der Parteispitze angekündigt. Foto: Jane Barlow
Nicola Sturgeon hatte Mitte Februar überraschend ihren Rückzug von der Parteispitze angekündigt.
Foto: Jane Barlow

Lange führte ihr Weg schnurgerade nach oben. Doch nach der vorübergehenden Festnahme von Ex-Regierungschefin Nicola Sturgeon befindet sich die oft als unbesiegbar bezeichnete Schottische Nationalpartei (SNP) in der größten Krise seit Jahrzehnten - und der Wunsch nach Unabhängigkeit von Großbritannien hat mehr als einen herben Dämpfer erhalten.

Die SNP stehe am »Wendepunkt«, sagte Gerry Hassan von der Caledonian University in Glasgow der Zeitung »Financial Times«. Aus den eigenen Reihen kamen Forderungen, Sturgeon solle ihre SNP-Mitgliedschaft ruhen lassen - oder von Nachfolger Humza Yousaf suspendiert werden. Doch der Regierungschef lehnte ab. Es gebe keinen Anlass, denn Sturgeon sei ohne Anklage freigelassen worden, sagte er der BBC.

Die Umfragewerte im freien Fall, die Finanzlage chaotisch, zahlreiche Mitglieder weg - der Druck auf Yousaf steigt. Dass der Vertraute von Sturgeon zu ihrem Nachfolger gewählt wurde, galt als Zeichen der Kontinuität. Nun muss der 38-Jährige vor allem aufräumen.

Die Rede ist von einer »Seifenoper«

Vor Sturgeon, die weiter im Regionalparlament in Edinburgh sitzt, wurden bereits ihr Ehemann Peter Murrell, der lange ein zentrales SNP-Amt innehatte, und Schatzmeister Colin Beattie von der Polizei stundenlang befragt. Geradezu grotesk wirkt in der Causa, die längst zu einem Fall Sturgeon geworden ist, dass die Polizei auch einen Luxus-Campervan beschlagnahmte. Von einer »Seifenoper« ist die Rede. Im Raum steht, dass Hunderttausende Pfund Spenden für die Unabhängigkeitskampagne zweckentfremdet wurden. »Unabhängig davon, ob Frau Sturgeon angeklagt wird oder nicht, hat dieser Skandal den Ruf der SNP bereits zerstört«, kommentierte die Zeitung »Mail«.

In gut acht Jahren an der Spitze hatten Sturgeon, die die Vorwürfe vehement bestreitet, und Murrell die Partei zu einer Wahlsiegmaschine geformt. Bei der jüngsten Regionalwahl hatte die SNP stark zugelegt und eine absolute Mehrheit hauchdünn verpasst. Gemeinsam mit den Grünen, die ebenfalls eine Rückkehr in die EU anstreben, verfügte die Partei aber über eine klare Mehrheit im Parlament in Edinburgh.

Doch Beobachter kritisieren nun, die SNP sei zu sehr auf das »power couple« an der Spitze zugeschnitten gewesen. International wurde Sturgeon als Landesmutter geschätzt, intern führte sie mit harter Hand. Gegner wie Vorgänger Alex Salmond wurden verdrängt. »Nicola Sturgeon hat andere schon für viel weniger aus der SNP suspendiert«, kritisierte Angus MacNeil, der für die Partei im britischen Parlament sitzt. In die Entscheidungen seien nur wenige Leute einbezogen worden, ist nun zu lesen. Wenn es kritisch wurde, habe Sturgeon mit lautstarken Forderungen abgelenkt, die britische Regierung müsse endlich einem neuen Unabhängigkeitsreferendum zustimmen.

Die Loslösung von London ist seit Jahren die dominierende Frage in Schottland. Mit ihrem klaren Unabhängigkeitskurs hat Sturgeon das Profil der SNP geschärft - auf Kosten der Labour-Partei, die lange in Schottland regierte und weitestgehend gleiche Positionen vertritt. Nur ist Labour gegen eine Abspaltung, das nutzte die SNP.

In Umfragen holt Labour auf

Seit Sturgeons völlig überraschender Rücktrittsankündigung im Februar verlagern sich aber die Gewichte. In Umfragen holt Labour auf. Das dürfte auch Folgen für die kommende britische Parlamentswahl haben, die vermutlich im Herbst 2024 stattfindet. 59 Sitze für London werden in Schottland vergeben. Zuletzt holte Labour nur einen, die SNP aber 48. Kann Labour der Nationalpartei einige Wahlkreise abluchsen, würde dies Oppositionsführer Keir Starmer auf dem Weg in die Downing Street deutlich Rückenwind geben. Ohne Stimmen aus Schottland ist noch kein Labour-Chef Premierminister geworden.

In den landesweiten Umfragen liegt Labour klar in Führung, dabei hilft auch die Lage innerhalb der Konservativen Partei von Premierminister Rishi Sunak. Die Tories erschüttert der Streit um Ex-Regierungschef Boris Johnson, der am Freitag wegen schweren Vorwürfen in der »Partygate«-Affäre um illegale Lockdown-Feiern sein Parlamentsmandat abgegeben hatte. »Es gab schon schlechtere Wochen für Keir Starmer«, kommentierte der Journalist Lewis Goodall. »Starmer sieht, wie seine beiden größten Gegner implodieren.«

Doch für viele Schotten bleibt die Loslösung von London auch ohne Sturgeon ein Ziel. Umfragen sehen zwar Verluste für die SNP - doch bei der Unabhängigkeit bleibt der nördlichste britische Landesteil gespalten. Labour ist gewarnt. Die Unabhängigkeitsfrage bestimme Abstimmungen auf eine Weise, die für die anderen Parteien schwierig ist, zitierte die »Financial Times« einen ranghohe Labour-Quelle.

© dpa-infocom, dpa:230612-99-23280/4