Israel steht nach dem ersten Direktangriff seines Erzfeinds Iran vor einem großen Dilemma. Wie soll der jüdische Staat auf die Attacke mit mehr als 300 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen reagieren?
Mit dem Angriff in mehreren Wellen hat die sonst so vorsichtige Islamische Republik aus israelischer Sicht klar eine rote Linie überschritten - auch wenn er mit stundenlanger Vorankündigung erfolgte und in Israel letztlich vergleichsweise wenig Schaden angerichtet hat. 99 Prozent der Geschosse - die nach israelischen Militärangaben 60 Tonnen Sprengstoff trugen - wurden von Israel und seinen Verbündeten abgefangen.
USA mahnen Israel zur Zurückhaltung
US-Präsident Joe Biden fordert nun von Israel, dass es sich mit diesem Verteidigungserfolg zufriedengibt und nicht reagiert. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz rief Israel dazu auf, »zur Deeskalation beizutragen«, sprach aber gleichzeitig von einer »schlimmen Eskalation« Teherans.
Diese erfolgte als Vergeltungsschlag auf einen mutmaßlich israelischen Luftangriff auf Irans Botschaftsgelände Anfang April. Dabei waren zwei Generäle der mächtigen Revolutionsgarden getötet worden. Irans Staatsführung kündigte Rache an.
Nach Medienberichten ist Israel fest entschlossen, nun wiederum auf den iranischen Vergeltungsangriff zu reagieren. Unklar sei nur, wann und in welchem Umfang. Die israelische Iran-Expertin Sima Shina geht davon aus, dass Israel ebenfalls auf militärische Einrichtungen im Iran abzielen könnte.
Ein Experte im Magazin »Foreign Policy« zeigt Schwierigkeiten bei einem direkten Angriff im Iran auf und hält daher israelische Angriffe auf iranische Repräsentanten und Infrastruktur in Syrien, dem Libanon, dem Irak oder dem Jemen für wahrscheinlicher.
Die Angst vor der Bombe
Ein israelischer Gegenschlag im Iran selbst könnte wiederum eine neue, vermutlich deutlich härtere Reaktion Teherans auslösen. Der Weg zu einem brandgefährlichen Krieg mit potenziell verheerenden Konsequenzen für die ganze Region und möglicherweise sogar darüber hinaus wäre dann nicht mehr weit.
Umso brisanter macht die Lage, dass auch Atomwaffen ins Spiel kommen könnten. Israel hat die Sorge, der Iran sei bereits in der Lage, binnen kurzer Zeit Kernwaffen herzustellen, sollte er sich dazu entschließen.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu könnte die nun entstandene Lage als letztes Gelegenheitsfenster sehen, den Iran vor einem solchen Schritt entscheidend zu schwächen. Teheran beteuert jedoch bisher, das Programm nur rein zivil zu nutzen. Israel ist dagegen bereits als regionale Atommacht bekannt, hat den Besitz von Nuklearwaffen jedoch nie offiziell zugegeben.
Iranischer Angriff zeigte Bündnis an Israels Seite
Aus geopolitischer Sicht hat Teherans Großangriff Israel, das vorher wegen seines harten Vorgehens im Gaza-Krieg zunehmend isoliert war, eher in die Hände gespielt. Er zeigte, dass Israel in Zeiten der Not ein starkes Bündnis an seiner Seite hat. Das israelische Militär hatte bei der Abwehr der iranischen Raketen- und Drohnenangriffe tatkräftige Unterstützung der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Jordaniens.
Israel hofft nun, es könne auch beim weiteren Vorgehen gegen den Iran internationale Kräfte einbinden. Benny Gantz, Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, sprach etwa mit Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) über die von Israel angestrebte Bildung einer »globalen Front« gegen den Iran und seine Stellvertreter. Mit einem hastigen Alleingang würde Israel jedoch die neu gewonnene Unterstützung wieder aufs Spiel setzen.
Rechtsextreme Regierungspartner fordern aggressive Antwort
Doch auch innenpolitische Erwägungen könnten bei dem Entscheidungsprozess eine Rolle spielen. Die rechtsextremen Regierungspartner von Netanjahu, von denen sein politisches Überleben abhängt, rufen nach einer aggressiven Antwort Israels.
»Alle Augen im Nahen Osten und auf der ganzen Welt sind jetzt auf den Staat Israel gerichtet«, schrieb Finanzminister Bezalel Smotrich. »Wenn unsere Reaktion für mehrere Generationen im ganzen Nahen Osten nachhallt - dann werden wir siegen. Wenn wir uns aber - Gott bewahre - zurückhalten, dann bringen wir uns und unsere Kinder in eine unmittelbare existenzielle Gefahr.« Es gibt allerdings auch nicht wenige moderatere Israelis, die einen Gegenschlag für unverzichtbar halten.
Israel will nach dem 7. Oktober Abschreckung wiederherstellen
Israel gilt seit dem Massaker der islamistischen Hamas - einer Verbündeten des Irans - an rund 1200 Israelis im Grenzgebiet zum Gazastreifen am 7. Oktober als strategisch geschwächt. Im Gaza-Krieg, den das Massaker ausgelöst hatte, ist es der israelischen Armee trotz schwerster Zerstörungen und hoher Opferzahlen auch unter Zivilisten bisher nicht gelungen, die Hamas entscheidend zu schlagen. Auch die Hälfte der am 7. Oktober verschleppten Geiseln sind weiterhin in der Hand der Terroristen.
Israel will auch angesichts der ständigen Angriffe mit Teheran verbündeter Milizen auf sein Staatsgebiet seine Abschreckung wiederherstellen. Eine harte Reaktion gegen den Iran wird daher von manchen als eine Art »Befreiungsschlag« gesehen.
»Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass die gesamte israelische politische und militärische Führung Entscheidungen trifft, während sie noch unter dem Eindruck des Versagens am 7. Oktober steht«, schrieb ein Kommentator der Zeitung »Jediot Achronot«. »Dies beeinträchtigt die Reinheit und Klarheit der Entscheidungen, die getroffen werden.«
Manche warnen auch, mit der Verwicklung Israels in einen großen regionalen Krieg würden gerade Wunschtraum und Absicht des Hamas-Chefs im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, in Erfüllung gehen.
Iran setzt auf Raketenprogramm und asymmetrische Verteidigung
Mehrfach in der Geschichte stand der Iran am Rande eines regionalen Kriegs. Auch mit Blick auf die Feindschaft zu den USA und Israel hat die Staatsführung das Land in den vergangenen Jahrzehnten aufgerüstet. Heute gilt die Islamische Republik als eine ambitionierte Regionalmacht, mit einer der größten Armeen der Welt. Rund 610.000 aktive Soldaten und etwa 350.000 Reservisten dienen der regulären Armee oder den Revolutionsgarden, wie aus einem Bericht des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) hervorgeht.
In ihrer Verteidigungsstrategie vertraut die politische und religiöse Führung des Irans auf eine Kombination von umfangreichen Raketen- und Drohnenarsenalen sowie auf die Unterstützung von Milizen in Ländern wie dem Irak, Syrien, dem Jemen und dem Libanon, um eine asymmetrische Abschreckung zu gewährleisten. Besonders die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon gilt als bedeutendster nichtstaatlicher Verbündeter. Im Falle eines israelischen Gegenangriffs hatte Irans Militärführung angekündigt, härter als zuvor zuzuschlagen.
Als größte militärische Schwäche des Irans gilt allerdings seine veraltete Luftwaffe, deren Modernisierung aufgrund der scharfen internationalen Sanktionen bisher erschwert wurde. Viele der Flugzeuge, darunter auch F-14-Modelle, stammen noch aus der Zeit vor der Islamischen Revolution von 1979, als das Land enge Beziehungen zu den USA unterhielt. Berichten zufolge hat Teheran im Rahmen seiner militärischen Kooperation mit Russland einen Deal abgeschlossen, um russische Kampfflugzeuge vom Typ Su-35 zu erwerben.
Irans Verbündete werden weiter mitmischen
Im Fall eines weiteren iranischen Angriffs - oder nach einer neuen Attacke Israels - dürften auch Teherans Verbündete in der Region wieder eingreifen. Vor allem die Hisbollah im Libanon hat mit ihrem umfassenden Raketenarsenal die Mittel, Israel nahe der gemeinsamen Grenze und darüber hinaus noch empfindlicher zu treffen als bisher. Im schlimmsten Fall könnte ein neuer, umfassender Krieg an Israels nördlicher Front entstehen.
Auch die Iran-treuen Milizen in Syrien, im Irak und im Jemen dürften ihre Attacken fortsetzen. Deren Angriffe zielten bisher aber vor allem auf US-Truppen in der Region oder die Handelsschifffahrt. Trotz des Arsenals etwa aus Drohnen und ballistischen Raketen der Huthi blieben deren vereinzelte Angriffe auf israelisches Gebiet bisher eher eine Randerscheinung.
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