Marode Bahnstrecken und Brücken, Sanierung von Schulen, Ausbau von Kitas, Geld für mehr Klimaschutz: Die deutsche Industrie beklagt einen gewaltigen Investitionsstau in Deutschland. Um diesen aufzulösen und den Standort zu stärken, spricht sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) für milliardenschwere, kreditfinanzierte Sondervermögen aus - als Extratöpfe neben dem Bundeshaushalt und außerhalb der Schuldenbremse.
Industrie sieht Investitionsblockade
Der BDI sieht einen zusätzlichen staatlichen Finanzierungsbedarf bis zu 400 Milliarden Euro über zehn Jahre. Dabei geht es zum Beispiel um Investitionen in Verkehrswege, Kitas und Schulen, den Wohnungsbau und den Klimaschutz. Es gehe darum, den öffentlichen Investitionsstau aufzulösen, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm der Deutschen Presse-Agentur. »Wir brauchen eine Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen über Parteigrenzen hinweg.«
Der BDI hoffe, dass die Vorschläge ein Anstoß sein könnten, dass die »Investitionsblockade« durch präzise, zweckgebundene und zeitlich klar definierte Sondervermögen möglicherweise noch in dieser Legislaturperiode gelöst werden könne. Unter Unternehmen herrsche die große Sorge, dass notwendige Investitionen hinausgezögert würden. »Die Politik kommt nicht zu Lösungsvorschlägen. Die Unternehmen brauchen aber Planungssicherheit.« Der BDI verwies auch auf die derzeitige Wachstumsschwäche in Deutschland.
Milliardensummen notwendig
»Der Staat steht aktuell vor der Aufgabe, Investitionen in großer Höhe nachholen beziehungsweise anschieben zu müssen«, heißt es in einem BDI-Papier. Die Investitionen in Infrastruktur, Gebäude und Wohnen sollten über das nächste Jahrzehnt in der Größenordnung von rund 315 Milliarden Euro erhöht werden. Rund die Hälfte des Bedarfs von etwa 160 Milliarden Euro entfalle auf Verkehrsinfrastruktur, vor allem für Sanierung, Digitalisierung und Ausbau der Schiene, für den Erhalt und Ausbau von Straßen und den Ausbau des ÖPNV. Die Bildungsinfrastruktur erfordere Investitionen von 100 Milliarden Euro.
Der klimafreundliche Umbau der Wirtschaft solle mit weiteren 41 Milliarden Euro an Investitionsanreizen bis 2030 vorangetrieben werden. Genannt wird vom BDI zum Beispiel der Umbau der Industrie weg von Kohle, Öl und Gas sowie eine Ladeinfrastruktur für E-Autos. Um Resilienz-Ziele Deutschlands und der EU zu erfüllen, seien bis zu 40 Milliarden Euro notwendig. Dabei geht es um Anreize, um zum Beispiel bei Mikroelektronik und Batterietechnologien die Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsregionen wie China zu verringern.
Industrie für Sondervermögen
Russwurm sagte, zunächst müsse die Bundesregierung durch Strukturreformen Wachstum ermöglichen, Effizienzpotentiale heben und den Mut zur Priorisierung von Maßnahmen beweisen, um den Haushalt zu konsolidieren. »Nur unter dieser Voraussetzung halten wir es für vertretbar, inhaltlich und zeitlich präzise definierte Sondervermögen einzurichten.« Diese könnten insgesamt ein Volumen von 400 Milliarden Euro haben.
Für die Bundeswehr war nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein schuldenfinanziertes Sondervermögen mit einem Umfang von 100 Milliarden Euro im Grundgesetz geschaffen worden, dafür war eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag notwendig. Von der Schuldenbremse sind diese Schulden ausgenommen.
Eine Abschaffung oder Aufweichung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse lehnt der BDI als nicht zielführend ab. Die Schuldenbremse habe insbesondere den Anstieg des Schuldenstandes des Bundes deutlich abgebremst.
Konkrete Form der Sondervermögen
Für verschiedene Aufgaben sollten nach dem BDI-Vorschlag unterschiedliche Sondervermögen aufgestellt werden - durch ein eigenes Gesetz und mit einer präzisen Regelung der Aufgaben und Finanzierung.
Infrastruktur- sowie Resilienzbedarfe könnten über ein Sondervermögen mit einer Laufzeit von acht bis zwölf Jahren eingerichtet werden - Klima- und Transformationsbedarfe in zwei aufeinander folgende Sondervermögen mit einer Laufzeit von jeweils zwei Legislaturperioden bis 2041 ausgestaltet werden. Die Finanzierung wäre am besten über die Ausgabe von zehnjährigen oder noch länger laufenden Bundesanleihen zu gestalten, so der BDI. Die Sondervermögen müsste mit einem Tilgungsplan versehen werden.
Lindner weist Vorschlag zurück
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) schrieb am Mittwoch auf dem Netzwerk LinkedIn: »Die Schaffung von schuldenfinanzierten Sondervermögen ist kein Zaubertrick, der fiskalische und rechtliche Probleme löst. Denn die fälligen Zinsen belasten den zukünftigen Steuerzahler und die europäischen Fiskalregeln gelten auch für Sondervermögen.«
Der Bund verfüge über hinreichende Einnahmen für erhebliche Investitionen bis 2030, schrieb Lindner. »Die bereits erheblichen Anstrengungen könnten weiter verstärkt werden, wenn Prioritäten in den Haushalten der kommenden Jahre verschoben würden. Bisher besteht allerdings regelmäßig das Problem, dass aufgrund von langen Planungsverfahren und begrenzter Kapazitäten im Etat bereitgestellte Gelder nicht abfließen können.«
Lindner pocht in den Verhandlungen zum Bundeshaushalt darauf, dass Ressorts Sparvorgaben einhalten und die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse eingehalten wird. Diese sieht neue Schulden nur in einem begrenzten Umfang vor. Anfang Juli soll das Kabinett den Haushalt beschließen. Die Verhandlungen innerhalb der Regierung sind schwierig, Grüne und SPD wollen keinen Sparhaushalt.
Zustimmung für BDI-Vorstoß
»Es ist Zeit für Investitionen«, sagte Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi sagte, es seien mehr kreditfinanzierte Investitionen der öffentlichen Hand notwendig. Der aktuell eingeforderte Sparkurs Lindners verspiele Zukunftschancen und vernichtet Wohlstandspotenzial. Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Chemie- und Energiegewerkschaft IGBCE, begrüßte Sondervermögen für Investitionen: »Denn die Schuldenbremse hat sich zur Investitionsbremse entwickelt.«
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