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In der »Suwalki-Lücke« wächst das Unbehagen

Russland und Litauen streiten wegen der Versorgung der russischen Exklave Kaliningrad. Dies schürt Ängste in Polen und Litauen in einem Gebiet, das die Nato als »Suwalki-Lücke« bezeichnet. Es geht um mehr als nur den Bahn-Transit.

Der Grenzort Kybartai
Ein litauischer Zollbeamter kontrolliert am Bahnhof von Kybartai den russischen Passagierzug von Kaliningrad nach Moskau. Foto: Doris Heimann
Ein litauischer Zollbeamter kontrolliert am Bahnhof von Kybartai den russischen Passagierzug von Kaliningrad nach Moskau.
Foto: Doris Heimann

Abends gegen sieben Uhr fährt der Zug von Kaliningrad nach Moskau in den Provinzbahnhof von Kybartai ein. Die silbergrauen Waggons mit dem roten Logo der russischen Eisenbahn RZD glänzen in der Abendsonne. In den Schlafwagen räkeln sich Passagiere auf ihren Betten, manche schauen aus dem Fenster. Aussteigen dürfen sie nicht. Denn Kybartai liegt in Litauen, einem EU- und Nato-Land, das der Zug auf seiner knapp 19-stündigen Fahrt von der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad nach Moskau passieren muss. Litauen erlaubt den Transit ohne Schengen-Visum - unter der Auflage, dass niemand den Zug verlässt.

Forderungen nach Eroberung eines »Korridors«

Ein Streit zwischen der Baltenrepublik und Russland hat dem Bahnhof Kybartai weltweite Aufmerksamkeit gebracht. Hier verläuft die wichtigste Bahnlinie, die Kaliningrad mit Kern-Russland verbindet. Und seit Litauen den Transit von Waren gestoppt hat, die auf der EU-Sanktionsliste stehen, reißen die Drohungen aus Moskau nicht ab. Der Kreml droht mit »praktischen« Gegenmaßnahmen und stellt Litauens Staatsgrenze infrage. In russischen Talkshows wird die Eroberung eines »Korridors« nach Kaliningrad gefordert.

Das trifft in der Grenzregion einen empfindlichen Nerv. Denn seit Jahren gibt es bei der Nato den Begriff »Suwalki-Lücke«. Es handelt sich um einen Korridor auf polnischem und litauischen Gebiet zwischen Belarus und Kaliningrad. Mit dessen Einnahme könnte Russland die Baltenstaaten von den übrigen Nato-Ländern abschneiden. Benannt wurde der Korridor nach dem polnischen Ort Suwalki.

Russland wirft Litauen eine Blockade des Transits vor. Betroffen sind aber nur bestimmte Güter, wie Zement, Baumaterialien und Metalle. Während die Grenzer im Bahnhof Kybartai die Passagiere im Zug aus Kaliningrad kontrollieren, rollen endlos lange russische Güterzüge vorbei. »Im Vergleich zum vergangenen Jahr ist der Güterverkehr etwa um die Hälfte zurückgegangen«, sagt Bahnhofschef Saulius Baikstys (51). Angst vor einer russischen Invasion hat er nicht. »Litauen und Polen sind doch in der Nato.«

»Gefährlichster Ort auf der Welt«

Als »gefährlichsten Ort auf der Welt« hat das Magazin »Politico« die Suwalki-Lücke bezeichnet. Denn hier könnten Nato-Truppen auf Russlands Armee treffen, auch wenn momentan auch auf der polnischen Seite alles friedlich scheint. Baumbestandene Alleen winden sich durch die hügelige Landschaft des früheren Ostpreußens, Touristen baden in einem der vielen See, Störche sitzen auf ihren Nestern.

Aber das Unbehagen wächst auch hier. »Wir haben das historisch geprägte Bewusstsein: Im Fall einer russischen Aggression wären wir die ersten«, sagt Daniel Domoradzki (33), Chef der Bürgerinitiative »Aktive Masuren«. Animiert von Anfragen verängstigter Bürger startete die Initiative eine Umfrage bei einem Dutzend Gemeinden in der Region, wie es mit Bunkern und Zivilschutz aussieht. Überall war die Antwort ähnlich wie im Fall der Stadt Gizycko (Lötzen): »Auf dem Gebiet der Gemeinde gibt es keine Schutzräume.« Dabei seien in Gizycko aus dem Zweiten Weltkrieg noch elf unterirdische Bunker erhalten, sagt Stadtrat Pawel Andruszkiewicz. »Doch die sind entweder zugeschüttet, oder es wurde darauf gebaut.«

Die Sorgen Polens und der baltischen Staaten nehmen auch die Nato-Partner überaus ernst. Sie haben auf ihrem Gipfel in Madrid eine verstärkte Truppenpräsenz an der Ostflanke des Bündnisses beschlossen. In Polen sollen US-Truppen permanent stationiert werden, kündigte US-Präsident Joe Biden an. Für den Nato-Einsatz in Litauen ist Deutschland Führungsnation. Derzeit sind schon etwas mehr als tausend Männer und Frauen der Bundeswehr mit Panzern, Haubitzen und Flugabwehr als Teil eines Nato-Gefechtsverbandes (eFP battle group) in dem Land. Nun soll zusätzlich eine ganze Kampftruppenbrigade - womöglich insgesamt 4500 Soldaten - mit der Verteidigung beauftragt werden. Das Führungselement sowie Waffen, Munition und Ausrüstung werden dann in Litauen sein, die Soldaten für Übungen und den Ernstfall verlegungsfähig in Deutschland bereit.

Die Präsenz von Landstreitkräfte sei ein zentraler Punkt zur Abschreckung Russlands, sagte jüngst der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Generalleutnant Bernd Schütt. »Im Bereich der Suwalki-Lücke ist es nur ein kurzer Sprung, und dort ist die Gefahr einer Testung des Verteidigungswillens und der -fähigkeit der Nato relativ groß. In diesem Raum kann man relativ schnell Truppen verlegen und dann zum Beispiel unter Einsatz von Luftlandetruppen einen ersten Stoß durchführen«, sagte Schütt. »In Putins Rational: Vielleicht denkt er, die Nato kommt nicht.«

Viele Optionen für einen Aggressor

Einem Aggressor bieten sich viele Möglichkeiten für Provokationen und ein Austesten des Gegners. Sie reichen von Verletzungen des Luftraums, kleinere Zwischenfälle entlang der Grenze, die zusätzliche Stationierung von Waffensystemen bis zu großanlegten Militärmanövern, wie vor der Invasion in die Ukraine. Für Angriffsvorbereitungen gibt es keine Hinweise.

Allerdings ist praktisch jede Form der Auseinandersetzung mit Russland nun Teil des Kräftemessens. Nimmt man den Streit um den Transit von Waren dazu, gibt die EU an diesem Punkt nicht das beste Bild ab, zumal wenn jetzt zurückgerudert werden müsste.

Es sei Sache der EU, die notwendigen Rahmenbedingungen zu setzen, sagte Bundeskanzler Olaf Kanzler in Madrid zum Abschluss des Nato-Gipfels. Die Regeln seien »natürlich immer festzusetzen im Lichte der Tatsache, dass es hier um den Verkehr zwischen zwei Teilen Russlands geht«, sagte der SPD-Politiker. Alle Beteiligten seien gegenwärtig sehr bemüht, »hier eine Deeskalationsdynamik zu etablieren«.

© dpa-infocom, dpa:220701-99-875046/2