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Gefährlich und geächtet: Streubomben für die Ukraine?

Abgerissene Hände, verstümmelte Beine: Fotos von Streubomben-Opfern zeigen das Leid, das diese Waffen anrichten. Jetzt soll die ukrainische Armee von den USA damit versorgt werden.

Streumunition
Überreste von Streumunition liegen in Ayii im Südsudan an einer Räumungsstelle. Foto: Sam Mednick/DPA
Überreste von Streumunition liegen in Ayii im Südsudan an einer Räumungsstelle.
Foto: Sam Mednick/DPA

Die Aufregung war groß, als der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow Mitte Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz von den westlichen Verbündeten die Lieferung von Streumunition forderte. Wie Russland wolle auch sein Land diese Art von Kampfmitteln nutzen, also Waffengleichheit schaffen. »Es ist unser Staatsgebiet«, betonte er. Die Munition könne dazu beitragen, den Angreifern standzuhalten.

Damals waren die Verbündeten noch sehr zurückhaltend. Das lag vor allem daran, dass einige Nato-Staaten - darunter Deutschland - den Einsatz dieser gefährlichen Waffen per internationalem Abkommen geächtet haben. Jetzt gibt es die Kehrtwende. Die USA haben sich entschieden, Streumunition an die Ukraine zu liefern. »Wir werden die Ukraine in dieser Konfliktphase zu keinem Zeitpunkt schutzlos zurücklassen. Punkt«, sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Freitag zur Begründung. Es ist wieder mal ein qualitativ neuer Schritt bei der militärischen Unterstützung der Ukraine.

Was ist Streumunition und wie funktioniert sie?

Eine Streubombe ist ein Behälter aus Metall, der Hunderte kleiner Sprengsätze (Bomblets) enthält. Oft sehen sie aus wie bunte Getränkedosen oder Tennisbälle. Streubomben werden entweder von einem Flugzeug abgeworfen oder vom Boden aus abgefeuert. Sie öffnen sich in der Luft und setzen ihre Mini-Sprengsätze auf einem Gebiet frei, das von der Größe her mehreren Fußballfeldern entspricht. Die Bomblets sollen beim Aufprall explodieren. Ihre Metallteile können Fahrzeuge durchschlagen, Menschen und Tiere töten oder schwer verletzen. Streubomben werden eingesetzt, um feindliche Bodenkräfte und Fahrzeuge großflächig anzugreifen, sie zurückzudrängen oder ihr Vorrücken zu verlangsamen oder zu stoppen.

Wie kann die Munition bei der Gegenoffensive helfen?

Vor Beginn der seit wenigen Wochen laufenden Gegenoffensive der Ukraine haben die russischen Truppen Verteidigungslinien mit kilometerlangen Gräben, Panzerfallen und Minen aufgebaut. Das Kalkül der US-Regierung ist nach einem Bericht der »New York Times«, diese Verteidigungslinien nun mit Hilfe der Streumunition schwächen oder durchbrechen zu können. Aus dem Pentagon hatte es am Donnerstag geheißen, man würde Geschosse mit einer geringeren Rate an Blindgängern auswählen.

Was macht Streumunition so gefährlich?

Ein Teil der Mini-Bomben explodiert oft nicht und bleibt als Blindgänger im Boden stecken. Ähnlich wie Landminen werden sie jahrzehntelang zur Bedrohung, weil sie auch nach Kriegsende durch Erschütterung explodieren können. Oft trifft es Kinder, die Streubomben mit Spielzeug verwechseln können. Zu den Opfern gehören auch Bauern, die bei der Feldarbeit auf Blindgänger stoßen. Wenn Menschen überleben, erleiden sie oft Verstümmelungen, Verbrennungen und können erblinden.

Wo wurde Streumunition schon eingesetzt?

Streubomben wurden schon im Zweiten Weltkrieg von deutschen und sowjetischen Streitkräften benutzt. Die Nothilfeorganisation Handicap International berichtet in ihrem jüngsten Streubomben-Monitor für 2022, dass seitdem mindestens 23 Staaten darauf zurückgegriffen haben. Seit 2010 registrierte die Organisation den Einsatz von Streubomben in der Ukraine, in Kambodscha, Libyen, Sudan, Südsudan und im Jemen. Im Ukraine-Krieg seien sie von beiden Seiten eingesetzt worden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat immer wieder kritisiert, dass dabei Zivilisten verletzt und getötet wurden.

Was steht in dem Abkommen gegen Streumunition?

Das Übereinkommen über Streumunition (Convention on Cluster Munition oder Oslo-Übereinkommen) trat 2010 in Kraft. In dem Vertrag verpflichten sich Staaten, »unter keinen Umständen jemals Streumunition einzusetzen, zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern, zurückzubehalten oder an irgendjemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben«.

Wer ist dem Vertrag beigetreten und wer nicht?

Bislang haben 111 Staaten diesen Vertrag ratifiziert, darunter auch Deutschland. 74 Länder haben das bisher nicht getan. Dazu zählen neben der Ukraine, Russland und Belarus auch die Nato-Staaten USA, Estland, Lettland, Finnland, Türkei, Griechenland, Polen und Rumänien.

Wie verhält sich die Bundesregierung zu den US-Überlegungen?

Sie verweist zwar darauf, dass Deutschland dem Abkommen zur Ächtung von Streumunition beigetreten ist, äußert aber gleichzeitig Verständnis für die US-Entscheidung. In der Ukraine bestehe eine »besondere Konstellation«, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag. »Die Ukraine setzt eine Munition zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung ein. Es geht um einen Einsatz durch die eigene Regierung zur Befreiung des eigenen Territoriums.« Außerdem verwies Hebestreit - wie schon im Februar der ukrainische Vizeregierungschef - darauf, dass Russland »in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bereits in großem Umfang Streumunition eingesetzt« habe.

Verfügt die Bundeswehr denn noch über solche Munition?

Nein. Bereits 2001 hat die Bundeswehr mit der Entsorgung ihrer Bestände begonnen und sie im November 2015 abgeschlossen. Auch eine Weitergabe von in Deutschland produzierter Streumunition durch andere Länder würde die Bundesregierung nicht genehmigen, weil sie dem Abkommen zur Ächtung beigetreten ist.

Wie hat Russland auf die US-Medienberichte reagiert?

Russland warnt vor einer Zunahme der Gewalt im Krieg, sollten die USA Streumunition an die Ukraine liefern. »Das ist ein neuer Schritt in Richtung einer Eskalation des Konflikts«, sagte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, wirft den USA ein Ablenkungsmanöver vor, wenn sie von angeblich »weniger gefährlicher« Streumunition für die Ukraine sprächen.

© dpa-infocom, dpa:230707-99-321631/4