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Gaza-Krieg: Verstößt Israel gegen das Völkerrecht?

Die Zustände im Gazastreifen sind für viele Menschen unerträglich geworden. Israel lässt aber nicht nach im Kampf gegen die islamistische Hamas. Wie ist die rechtliche Lage?

Nahostkonflikt
Ein israelischer Militärhubschrauber fliegt in der Nähe der Grenze zwischen Israel und Gaza dem Gazastreifen. Die israelische Armee setzt die Anrgiffe auf den Küstenstreifen fort. Foto: Ariel Schalit/DPA
Ein israelischer Militärhubschrauber fliegt in der Nähe der Grenze zwischen Israel und Gaza dem Gazastreifen. Die israelische Armee setzt die Anrgiffe auf den Küstenstreifen fort.
Foto: Ariel Schalit/DPA

Auf den ersten Blick scheint für viele die Antwort einfach. Das Leid der Zivilisten im Gazastreifen ist so groß, dass Israel mit seinem Bombardement offenkundig gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt.

Auch die Vereinten Nationen (UN) sehen viele Anzeichen, dass ein solcher Vorwurf berechtigt ist. Völkerrechtlich unumstritten ist zugleich, dass Israel nach dem von der islamistischen Hamas organisierten blutigen Terrorüberfall vom 7. Oktober ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Ob dabei die Vorgaben des Völkerrechts eingehalten werden, hängt von Informationen ab, die derzeit unabhängig kaum zu bekommen sind.

Ist die Bombardierung des Gazastreifens mit Tausenden zivilen Opfern ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht?

Die Antwort erfordert eine genaue Analyse. Aktuell erfolgt die Beurteilung der Lage vor allem nach Informationen durch die Kriegsparteien. Grundsätzlich schützt das humanitäre Völkerrecht Zivilisten und zivile Objekte. Beim militärischen Vorgehen müssen Militärs unter anderem streng auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Eine Formel, ab wann die Verhältnismäßigkeit zwischen Opfern unter Zivilisten und erreichtem militärischen Ziel verletzt wird, gibt es nicht. Der Versuch, die Führungsriege der Hamas auszuschalten, rechtfertigt möglicherweise mehr zivile Opfer als ein Angriff auf einfache Soldaten.

Rafah
Palästinenser, die vor der israelischen Bodenoffensive fliehen, kommen in Rafah im Gazastreifen an. Das Leid der Zivilisten in dem Krieg ist groß. Foto: Hatem Ali/DPA
Palästinenser, die vor der israelischen Bodenoffensive fliehen, kommen in Rafah im Gazastreifen an. Das Leid der Zivilisten in dem Krieg ist groß.
Foto: Hatem Ali/DPA

Wie ist es bewerten, dass Israel nach eigenen Angaben durch Fluchtkorridore und Warnungen die Zahl der zivilen Opfer zu begrenzen versucht?

Es gibt völkerrechtlich eine Pflicht zur Warnung an Zivilisten, dass ein Militärschlag droht. Das kann durch SMS oder Flugblätter oder andere Mittel geschehen. Sollten Zivilisten die Warnung und die Aufforderung, das Gebiet zu verlassen, nicht beachten, ändert das nicht ihren Status. Sie bleiben immer Zivilisten. Die Effektivität von Warnungen und Fluchtangeboten und die Frage, ob sie den Anforderungen des humanitären Völkerrechts genügen, ist derzeit Gegenstand von Kontroversen und Diskussionen unter Völkerrechtlern. Eine umfassende Beurteilung erfordert eine genaue Analyse der spezifischen Umstände und des Verlaufs der Militäroperationen.

Wie ist der Einsatz menschlicher Schutzschilde zu bewerten?

Der Einsatz menschlicher Schutzschilde wird allgemein als schwerwiegender Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht betrachtet. Die Verwendung von Zivilpersonen zum Schutz militärischer Ziele ist ein Kriegsverbrechen. Die Verurteilung des Einsatzes menschlicher Schutzschilde ist international weit verbreitet.

Gilt für Krankenhäuser ein absoluter Schutz oder dürfen zivile Opfer in Kauf genommen werden, wenn sich dort militärische Gegner verschanzen?

Der Grundsatz des absoluten Schutzes von medizinischen Einrichtungen bedeutet, dass sie nicht angegriffen werden dürfen - es sei denn, sie werden für feindliche Handlungen missbraucht. Ein Krankenhaus, aus dem Kämpfer schießen oder Raketen abfeuern, kann zum militärischen Ziel werden. Wenn sich der Gegner im oder unter dem Gebäude verschanze, dürfe es trotzdem nicht angegriffen werden, sagt die Grazer Völkerrechtlerin Yvonne Karimi-Schmidt. Der Schutz von Zivilisten und zivilen Einrichtungen habe Vorrang, und es werde erwartet, dass Konfliktparteien alles tun, um medizinische Einrichtungen und ihr Personal zu schützen.

Wie ist aktuell die israelische Sicht?

Der frühere Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit verweist darauf, dass bei der Frage der Verhältnismäßigkeit von Angriffen jeder Angriff einzeln betrachtet werde, nicht die Zahl getöteter Zivilisten insgesamt. Er spricht von einem »asymmetrischen Krieg« mit der Hamas. Israel sei als demokratischer Staat den Regeln des Krieges verpflichtet, während die Hamas gegen diese verstoße, etwa indem sie Zivilisten als Schutzschilde missbrauche oder Raketen auf israelische Bevölkerungszentren schieße. Bei Entscheidungen über israelische Angriffe seien immer juristische Experten beteiligt, die Aussagen über die Verhältnismäßigkeit treffen können. Die letzte Entscheidung treffe aber ein Kommandeur.

Rafah
Bei den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen werden auch immer wieder Zivilisten getötet. Foto: Abed Rahim Khatib/DPA
Bei den israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen werden auch immer wieder Zivilisten getötet.
Foto: Abed Rahim Khatib/DPA

Wie sieht es mit der Lieferung von Hilfsgütern aus?

Ob als Besatzungsmacht oder als Kriegspartei, muss Israel in jedem Fall die Lieferung von humanitären Hilfsgütern wie Nahrung, Wasser, Medikamente zulassen. Solche Maßnahmen ersetzen jedoch nicht den grundlegenden Schutz und die Einhaltung der Menschenrechte. Die Zustimmung von Israel zur Lieferung von Hilfsgütern sei ein positiver Schritt, um die humanitären Bedürfnisse der Bevölkerung im Gazastreifen zu erfüllen, so Karimi-Schmidt.

Welche rechtlichen oder politischen Gefahren sieht Israel?

Mandelblit betont, das Töten von Zivilisten sei nicht in Israels Interesse, im Gegenteil, es spiele der Hamas in die Hände. Die Hamas ziehe daher einen Krieg in dicht besiedelten Wohngebieten einem Konflikt in offenem Gebiet vor. »Wenn man Zivilisten tötet, Krankenhäuser und Moscheen angreift, die einen besonderen Schutz genießen, muss man beweisen, dass sie militärische Ziele waren, wenn nicht, verliert man den Krieg, man verliert in den Medien und an der juristischen Front«, sagt er. Wenn die Legitimität des militärischen Vorgehens in Frage gestellt werde, »wird die Welt einen stoppen«.

© dpa-infocom, dpa:231206-99-202651/4