Millionen Haushalte in Deutschland dürften im Herbst unter stark gestiegenen Gaspreisen ächzen, verursacht auch durch die neue Gasumlage. Viele könnten das nicht aus eigener Kraft stemmen, warnen Ökonomen. Der Druck auf die Bundesregierung steigt, möglichst bald ein neues Entlastungspaket zu schnüren. Ein Überblick, wie die Lage ist und welche Vorschläge es gibt:
Warum bei der Gasumlage Mehrwertsteuer fällig wird
Die von der Bundesregierung gewünschte Ausnahme von der Mehrwertsteuer für die geplante Gasumlage ist endgültig vom Tisch. Der gegenwärtige rechtliche Rahmen lasse eine Ausnahme für die Umlage nicht zu, schrieb EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni am Mittwoch in einem Brief an Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP).
Die staatliche Gasumlage gilt ab Oktober. Sie soll Gasversorger absichern, die zu hohen Preisen Ersatz für ausbleibendes, günstigeres Gas aus Russland kaufen müssen. Hinzu kommt, dass höhere Beschaffungskosten ohnehin schrittweise bei den Kunden ankommen.
Die Umlage von rund 2,4 Cent pro Kilowattstunde bedeutet für einen Einpersonenhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 5000 Kilowattstunden mit Mehrwertsteuer jährliche Zusatzkosten von rund 144 Euro. Für einen Familienhaushalt mit 20.000 Kilowattstunden liegen die Mehrkosten inklusive Mehrwertsteuer bei rund 576 Euro.
Welche Vorschläge die EU-Kommission macht
EU-Kommissar Gentiloni schlug vor, die Bundesregierung könnte die Mehrwertsteuer im Nachhinein an die Verbraucher zurückzahlen. Das könnte insbesondere Haushalten mit wenig Einkommen zugute kommen und diese damit auch für die Umlage selbst entschädigen. Zweitens könnten Energieunternehmen davon profitieren, sodass Endkunden entlastet würden. Alternativ könne man die geltende Mehrwertsteuer auf den EU-Mindestsatz von fünf Prozent reduzieren, schrieb Gentiloni. Schließlich könnte man die Umlage schlicht senken. In Deutschland gilt in der Regel ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent, der ermäßigte Satz liegt bei 7 Prozent.
Was Ökonomen und Verbände vorschlagen
Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagte der Deutschen Presse-Agentur: »Das beste Instrument sind direkte Transferzahlungen wie ein Energiegeld von 100 Euro pro Person und pro Monat für die kommenden 18 Monate.« Dieses sollte aber nur an Menschen mit mittleren und geringen Einkommen gehen und nicht an Menschen mit hohen Einkommen.
Der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, Sebastian Dullien, sagte, denkbar und sinnvoll wäre eine Neuauflage der Energiepauschale. Diese könne im Dezember ausgezahlt werden. Dabei sollten auch Haushalte berücksichtigt werden, die bislang weitgehend leer ausgingen, etwa Rentner mit niedrigen Einkommen, aber ohne Wohngeldbezug. »Eine andere, gute Möglichkeit wäre, einen Gaspreisdeckel für einen Grundverbrauch pro Haushalt einzuführen.«
Die von der Bundesregierung beschlossene Energiepauschale von einmalig 300 Euro kommt im September. Das Geld wird mit dem Gehalt ausgezahlt, dementsprechend sind darauf auch Steuern zu zahlen. Die Pauschale ist Teil der bisherigen Entlastungspakete.
Der Stadtwerkeverband VKU schlug vor, die Mehrwertsteuer für Strom-, Gas- und Wärmelieferungen generell zu senken, auf den ermäßigten Steuersatz von 7 Prozent oder sogar auf 5 Prozent. Zusätzlich könnte die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß reduziert werden.
Was die Bundesregierung bisher angekündigt hat
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Bürgern zugesichert, es werde niemand alleine gelassen. Er hat bisher eine Wohngeldreform mit einer deutlichen Ausweitung der Berechtigten angekündigt, zum 1. Januar 2023. Ebenfalls zum 1. Januar soll ein Bürgergeld kommen, welches das bisherige Hartz-IV-System ablösen soll.
Scholz sagte in der vergangenen Woche, die Regierung wolle auch etwas für diejenigen tun, die zwar ein Arbeitseinkommen hätten, aber auch rechnen müssten, die keine Ersparnisse hätten und mit den gestiegenen Energiekosten nicht ohne Weiteres umgehen könnten. »Das gilt für ganz viele Bürgerinnen und Bürger«, sagte der SPD-Politiker. »Es geht mir um diejenigen, die 2800, 3200 oder 4000 Euro brutto im Monat verdienen, für die das alles große Herausforderungen sind.« Es gehe um ein Gesamtpaket.
Was die Aussagen von Scholz bedeuten
Scholz' Pläne zielten bis weit in die Mitte hinein, sagte Maximilian Stockhausen vom Institut der deutschen Wirtschaft. Wegen der kriegsbedingten Preissteigerungen, vor allem bei Energie und Lebensmitteln, sei eine Entlastung insbesondere der »unteren Mitte« ebenso angezeigt wie die Entlastung unterer Einkommensschichten. Vorschläge zur Einrichtung von Härtefallfonds seien besonders sinnvoll, weil dies individuelle und zeitnahe Lösungen ermögliche.
Dullien sagte, die von Scholz genannten Einkommensgruppen entsprächen der unteren Mittelschicht in Deutschland. »2021 etwa lag der durchschnittliche Bruttoverdienst eines Vollzeitbeschäftigten bei etwas mehr als 4000 Euro pro Monat.« Fratzscher sagte, die von Scholz genannte Gruppe habe kaum Ersparnisse, um zusätzliche Kosten abzudecken, und sie erhalte kaum direkte Unterstützung vom Staat. Daher könnten diese Menschen aus eigener Kraft die Kosten der höheren Inflation nicht selbst stemmen und benötigten dringend Unterstützung. »Die Politik muss nun dringend ein drittes Entlastungspaket umsetzen, welches mit oberster Priorität diese Gruppe entlastet.«
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