Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher anzünden. Männer, die Polizisten verprügeln, weil sie Demonstrationen filmen. Im Iran entlädt sich die angestaute Wut Hunderttausender Menschen auf den Straßen. Wie ein Lauffeuer breitet sich der Protest im ganzen Land nach dem Tod einer jungen Frau aus. Angst und Hoffnung liegen in der Luft, während die Staatsmacht eine Antwort vorbereitet.
In der Hauptstadt Teheran geht die Studentin Schabnam seit Tagen auf die Straße, weil sie Veränderung will. »Ich kann rumsitzen und alles bedauern, oder ich kann etwas dagegen tun«, sagt die 25-Jährige in einem Telefoninterview. Der Tod der jungen Mahsa Ahmini im Polizeigewahrsam hatte bei ihr wie bei zahlreichen Menschen weltweit Entsetzen ausgelöst. Am Freitag vergangener Woche war die iranische Kurdin gestorben, nachdem sie wenige Tage zuvor von der Moralpolizei wegen ihres »unislamischen Kleidungsstils« festgenommen worden war.
»Sie können nicht alle zusammenschlagen, verhaften oder töten«, sagt Schabnam. Es mache ihr Mut, gemeinsam mit anderen Menschen auf die Straße zu gehen. In vielen Städten ist mit Anbruch der Dunkelheit, wenn die Menschen auf die Straßen strömen, immer wieder der Slogan zu hören: »Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht. Wir sind alle zusammen« - eine Parole, die vor allem während der Demonstrationen nach der umstrittenen Präsidentenwahl 2009 populär geworden war.
Junge Generation kritisiert das islamische System
Doch heute, 13 Jahre später, ist das Land anders. Dabei spielt nicht nur die Wirtschaftskrise eine Rolle, die selbst gebildete Uni-Absolventen zum Taxifahren zwingt und die Ersparnisse der Mittelschicht durch hohe Inflation schwinden lässt. Auch die junge Generation stellt sich mutig dem Staat entgegen und kritisiert das islamische System. Dabei geht es vielen gar nicht darum, die islamische Religion abzulehnen.
»Wer im Islam würde ein junges Mädchen wegen eines Kopftuchs töten?«, fragt Schabnams Vater, der in Teheran als Apotheker arbeitet. Anfangs war er wie seine Ehefrau noch besorgt, dass die Kinder demonstrieren gehen. Doch auch den religiösen Eltern, die während der islamischen Revolution 1979 am Sturz der Monarchie beteiligt waren, ist bewusst geworden, wie wütend viele Menschen sind. »Die Verzweiflung ist ein Grund, warum das Regime Angst haben sollte.«
Viele Demonstranten fordern seit fast einer Woche den Sturz des gesamten islamischen Regimes im Iran und stattdessen ein säkulares System, in dem Staat und Religion getrennt sind, als Alternative. Schabnam und ihre Familie gehen jedoch nicht so weit. »Die Türkei ist ja auch islamisch, aber die Frauen dürfen zwischen Schleier und Minirock frei wählen«, sagt Schabnam. Daher gehe es ihrer Einschätzung nach nicht allen Demonstranten um einen »politischen Umsturz, sondern um ein Ende unzeitgemäßer islamischer Kriterien, die der iranischen Gesellschaft in den letzten vier Jahrzehnten aufgedrängt wurden«.
Regierung in Erklärungsnot
Die Regierung des erzkonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi ist seit dem Tod der jungen Frau und der landesweiten Entrüstung in Erklärungsnot geraten. Kaum jemand glaubt der offiziellen Darstellung, die 22-Jährige sei wegen Herzversagen zusammengebrochen. Längst ist ihr Fall zu einem Symbol für die Unzufriedenheit vieler Iraner geworden. Unterstützung erhalten die Demonstranten auch von ungewöhnlicher Seite. Einst konservative Politiker fordern eine Kurskorrektur.
Die Proteste haben sich in den vergangenen vier Tagen zu einer offenen Herausforderung für die iranische Führung entwickelt. Frauen legten auf den Straßen ihre Kopftücher, die sie tragen müssen, ab. Wütende Demonstranten zündeten Mülltonnen an und forderten, das bestehende System zu stürzen. »Frauen, Leben, Freiheit«, wurde gerufen oder auch »Tod dem Diktator!« - eine Anspielung auf den Religionsführer Ali Chamenei. Diese Form der offenen Systemkritik dürfte nicht unbeantwortet bleiben.
Regierung und Staatsmedien thematisieren die Proteste bisher kaum. Wenn überhaupt darüber berichtet wird, betiteln die Zeitungen den Protest als Einflussversuch ausländischer Mächte. Doch der Rhetorik der Ideologen, die aus einer Zeit des Widerstands in den 1970er Jahren stammt, glaubt heute kaum einer mehr. Auch deshalb scheint der Staat das Internet nahezu abgeschaltet zu haben, um jeglichen Versuch, Proteste zu organisieren, zu unterbinden.
Kopftuchzwang gehört zu ideologischen Prinzipien
Experten in Teheran bezweifeln, dass die Regierung jetzt Zugeständnisse macht. Der Kopftuchzwang sei nicht nur irgendein Gesetz, sondern gehöre zu den ideologischen Prinzipien der Islamischen Republik, erklärt ein Universitätsprofessor. Unterstützer des Systems befürchten einen Dominoeffekt, sollte der Staat den Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung große Zugeständnisse machen.
Während nahezu alle sozialen Netzwerke gesperrt und das mobile Internet abgeschaltet sind, fürchten viele ein hartes Einschreiten der Sicherheitskräfte. Mindestens 17 Menschen wurden nach Angaben der Staatsmedien bislang getötet. Wie viele es wirklich sind, lässt sich kaum überprüfen. Weltweit solidarisierten sich iranische Prominente mit den Protesten. Doch die meisten können nur hilflos zuschauen.
Auch Schabnam hat keine Hoffnung auf Unterstützung von außen. Trotzdem hofft die Studentin auf Veränderung und politische Reformen. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um Angst zu haben«, sagt sie.
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