Die Bilder aus der Ukraine von ausgebrannten Wohnhäusern, von Panzerkolonnen und Flüchtlingen, die nur mit dem Nötigsten tagelang unterwegs sind, haben Schrecken und Mitgefühl bei vielen Menschen ausgelöst.
Unerträglich sind sie für diejenigen, die nun um Freunde und Verwandte, um ehemalige Nachbarn, Mitschüler und Arbeitskollegen bangen. In den jüdischen Gemeinden Deutschlands, die von Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion geprägt sind, gilt das in ganz besonderer Weise. Nach Angaben der in Frankfurt ansässigen Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland haben 45 Prozent der Mitglieder der Jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Wurzeln in der Ukraine. Für sie ist der Krieg nicht weit weg, sondern ganz unmittelbar.
Sorge und Hilfe
»Wir sind alle tief besorgt um die Situation in der Ukraine. Viele unserer Gemeindemitglieder sind ursprünglich aus der Ukraine und haben teilweise noch Familie und Freunde in dem Gebiet«, sagt Michaela Fuhrmann von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. »Momentan erreichen uns besorgte Meldungen und Anfragen von Gemeindemitgliedern, deren Angehörige fliehen. Selbstverständlich wollen und werden wir helfen, wo wir nur können.«
Der Sportverein Makkabi, mit seinen Partnerorganisationen in Europa einschließlich der Ukraine gut vernetzt, hat ein Hilfsnetzwerk aufgebaut, um Geflüchteten zu helfen und diejenigen, die es aus der Ukraine geschafft haben, bei der Weiterreise und einem ersten Dach über dem Kopf zu unterstützen. So gelangten bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn 13 »Makkabäer« aus Rumänien nach Wien, Nürnberg und Frankfurt. Die Nachfrage ist allerdings enorm und übersteigt vielfach die Möglichkeiten.
»Am Tag nach dieser ersten Aktion hatte ich plötzlich 700 Anfragen auf WhatsApp«, berichtet Boris Schulman vom Frankfurter Makkabi-Vorstand. Seine Eltern wanderten selbst aus der Ukraine ein, als er noch ein kleines Kind war. »Wir tun, was wir können, aber wir stoßen an unsere Grenzen.«
Der Gemeinde Halt geben
Auch Avraham Yitzchack Radbil, der Gemeinderabbiner von Konstanz, kam als Kind aus der Ukraine nach Deutschland. Er hat noch Angehörige, die im Westen der Ukraine leben, und Freunde in Kiew, mit denen er sich so gut wie möglich über WhatsApp-Nachrichten und E-Mails täglich austauscht. »Die Menschen in der Ukraine wissen von der Solidarität und der Hilfsbereitschaft, die ihr Land überall in Europa erfährt. Das ist sehr wichtig für sie«, sagt er. Wie auch in der Frankfurter Gemeinde gab es in seiner Gemeinde im Schabbatgottesdienst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ein besonderes Friedensgebet.
Gerade bei Gemeindemitgliedern, die enge Verbindungen in die Ukraine haben, ist der Rabbiner als Seelsorger, als Tröster und Mutmacher zur Zeit sehr gefragt. »Es gibt viele Menschen bei uns, die mehr als die Hälfte ihres Lebens in der Ukraine verbracht haben«, sagt er. »Natürlich haben sie dort Bindungen, alte Freunde, Kollegen, Mitschüler, aber auch Angehörige, die zurückgeblieben sind.«
Das seien aber eher private, individuelle Gespräche zwischen Gemeindemitgliedern und Rabbiner. »Im öffentlichen Gemeindeleben reden wir nicht von Politik.« Denn so wie viele Gemeindemitglieder aus der Ukraine stammten, kämen auch viele aus Russland. »Es gibt viele, die sehen nur russisches Fernsehen - und haben deshalb ein völlig anderes Bild von dem, was in der Ukraine geschieht.«
Schicksale
Nicht nur private Nachrichten sollen den Menschen in der Ukraine Kraft geben und das Wissen, dass sie nicht vergessen sind. »Wir arbeiten momentan in der Ostukraine und in Kiew und bieten psychosoziale Unterstützung, vor allem durch Telefonhotlines«, sagt Aron Trieb von der Hilfsorganisation IsraAid. »Zusätzlich sind wir gerade dabei, Nahrungsmittelhilfen für Kiew und die Ostukraine zu organisieren.«
Von lokalen Mitarbeitern vor Ort gebe es Nachrichten über viele Tote und Verletzte durch die Angriffe. »Menschen werden verschüttet, da sie sich in den Kellern der Gebäude in Sicherheit bringen wollen und dann teilweise durch einstürzende Gebäude verschüttet werden.«
Die Ungewissheit über das Schicksal von Menschen, mit denen er gerade noch in Kontakt war, quält auch Boris Schulman. Stundenlang hatte er immer wieder Nachrichten mit einer vierköpfigen Familie ausgetauscht, die über die ukrainisch-rumänische Grenze wollte und auf Hilfe bei der Weiterreise hoffte. Da einer der Söhne über 18 war, durfte er allerdings nicht ausreisen. »Die Mutter hat daraufhin beschlossen, dass sie alle gemeinsam in der Ukraine bleiben und sich einen sicheren Ort suchen« erzählt Schulman. »In der letzten Nachricht schrieb sie, sie seien auf einem Feld, und es gebe ein Bombardement. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.«
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