Desolate Truppenmoral und Waffenmangel stellen Russland im kommenden Winter in der Ukraine nach Einschätzung eines Militärexperten vor große Probleme. »Auch ohne Einwirkung der Ukrainer wird der Winter eine große Herausforderung für die Russen«, sagte Niklas Masuhr, Forscher am angesehenen Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich, der Deutschen Presse-Agentur.
»Für die Russen geht es noch darum, sich über den Winter einzugraben. Die Truppen sind in so schlechtem Zustand, dass nicht klar ist, ob sie das schaffen.«
Die Versorgung der Truppen an der Front werde im Winter schwerer, das drücke weiter auf die Moral unter den Soldaten, die schon am Boden liege. »Die russische Offensivfähigkeit in der Ukraine ist gebrochen, weitere Vorstöße sind eher unwahrscheinlich«, sagte er. »Russland hat auf Defensivmodus geschaltet.« Gleichzeitig gebe es keine Anzeichen, dass die jüngste Terrorkampagne mit Raketen- und Drohnenangriffen die Ukrainer eingeschüchtert habe oder ihnen der Schwung ausgehe.
Niedrige Moral bei russischen Truppen
Er sehe täglich Berichte von mobilisierten russischen Truppen, die sich weigerten, in den Kampf zu gehen, und von Kommandeuren, die Untergebene mit Waffengewalt an die Front zwingen müssten. In den Verbänden fehle es an Zusammenhalt, weil die Truppen mittlerweile zusammengewürfelt seien, teils mit regulären Soldaten, teils mit Häftlingen und anderen jungen und alten Zwangsrekrutierten. »Mit so einem Flickenteppich kann man sich verteidigen, aber Offensiven stellen höhere Anforderungen an Ausbildung und Zusammenhalt.«
Dass ukrainische Vorstöße ins Stocken geraten sind, erkläre sich aus der Angriffsstrategie, sagte Masuhr. Die Ukrainer hätten zunächst dort angegriffen, wo abgenutzte russische Truppen weites Gelände zu verteidigen hatten. »Je dichter man an stärker verteidigte russische Frontabschnitte kommt, desto langsamer wird das Tempo, um den Gegner abzunutzen«, sagte Masuhr. Er hält eine ukrainische Offensive im Gebiet Cherson im Südosten nicht für aussichtslos. Ein Erfolg dort sei politisch und militärisch bedeutsam, weil er die russischen Truppen im Süden und Osten trennen und neue Vorstöße im Süden unmöglich machen würde.
Russland gehen die Waffen aus
Zudem gingen bei den Russen die Präzisionswaffen zur Neige. Ihnen fehle westliche Mikroelektronik für die weitere Produktion, die die Regierung auch über Schwarzmärkte nicht im nötigen Umfang und zu bezahlbarem Preis besorgen könne. Gleichzeitig stärkten westliche Waffenlieferungen die Ukraine. »Bei den Ukrainern geht die Kurve der Leistungsfähigkeit hoch, bei den Russen runter«, sagte Masuhr.
Für Verhandlungen sieht er zurzeit keine Grundlage. So lange Russland an dem Ziel der Vernichtung der Ukraine festhalte, seien Gespräche unmöglich. »So etwas kann es erst geben, wenn Russland sich damit abfindet, dass die Ukraine weiter existiert.«
© dpa-infocom, dpa:221029-99-305209/2