Die frühere Bürgerkriegsregion Nordirland hat erstmals eine Regierungschefin, die das britische Gebiet gerne mit dem EU-Mitglied Irland vereinigen würde. Michelle O'Neill von der Partei Sinn Fein übernahm am Samstag in Belfast als neue »First Minister« - als erste Katholikin in der 103-jährigen Geschichte des Landesteils. Politische Kommentatoren sprachen von einem »Erdbeben«. Sinn Fein wertete das historische Ereignis als Schritt hin zu einer irischen Wiedervereinigung.
Im jahrzehntelangen Bürgerkrieg hatten Katholiken, die einen Zusammenschluss mit Irland anstreben, gegen Protestanten gekämpft, die für die politische Union mit Großbritannien eintreten. Tausende kamen ums Leben. Das Karfreitagsabkommen beendete 1998 den Konflikt. Es schreibt eine Einheitsregierung der beiden konfessionellen Lager vor.
Eine Regierungschefin für alle
O'Neill betonte in ihrer ersten Ansprache, die sie teils auf Irisch hielt, sie wolle eine Regierungschefin für alle sein. Sie muss mit der DUP zusammen regieren, die für die politische Union mit Großbritannien eintritt. Der wichtigsten Partei des protestantischen Lagers steht im fein ausbalancierten politischen System das gleichberechtigte Amt des Vize-Regierungschefs zu. Dafür wurde Emma Little-Pengelly nominiert, eine Vertraute von Parteichef Jeffrey Donaldson. »Trotz unserer unterschiedlichen Ansichten über die künftige Verfassungslage verlangt die Öffentlichkeit zu Recht, dass wir zusammenarbeiten, Ergebnisse liefern und zusammenarbeiten«, sagte O'Neill.
Im Interview mit dem britischen TV-Sender Sky News machte sie aber deutlich, dass sie die Position der britischen Regierung nicht teile, die ein Referendum über die Einigungsfrage noch Jahrzehnte entfernt sieht. Ihre Wahl zeige, dass sich die Situation auf der irischen Insel wandle, sagte die 47-Jährige. O'Neill ist tief im republikanischen Lager verwurzelt. Ihr Vater Brendan Doris war ein Aktivist der Terrororganisation IRA und saß deshalb im Gefängnis. Sinn Fein galt lange als politischer Arm der IRA.
Politische Krise endet
Mit der Amtsübernahme von O'Neill endete die politische Krise in Nordirland auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Bruch der vorigen Regierung. Sinn Fein hatte bei der folgenden Regionalwahl im Mai 2022 erstmals die meisten Stimmen erhalten. Die Democratic Unionist Party (DUP) verweigerte aber die Kooperation. Sie forderte ultimativ ein Ende aller Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs, auf die sich die britische Zentralregierung und die EU nach dem Brexit geeinigt hatten.
Erst vor wenigen Tagen stimmte die DUP nach Verhandlungen mit London einem neuen Dokument zu. Die innerbritischen Kontrollen sollen auf ein Minimum reduziert werden. Doch Experten nennen diese Einigung symbolisch. Die Zeitung »Belfast Telegraph« kommentierte, die DUP habe ihr Ziel verfehlt und verkaufe ihre Niederlage als Sieg.
Rückt irische Einheit näher?
O'Neills Wahl gilt als historischer Durchbruch für den irischen Nationalismus. Die Sinn-Fein-Vorsitzende Mary Lou McDonald sagte, ein geeintes Irland rücke »in greifbare Nähe«. Auch in der Republik Irland liegt die Partei in Umfragen vorne. Dort verhindern aber zwei liberal-konservative Parteien mit einer Koalition eine Regierungsbeteiligung.
Auf nordirischer Seite ist die Skepsis bisher groß. Die Zeitung »Irish Times« ermittelte Ende 2023, dass sich dort bei einem Referendum nur 30 Prozent für die Vereinigung aussprechen würden, aber 51 Prozent dagegen. Viele fürchten finanzielle Folgen durch einen Zusammenschluss. In der Republik Irland liegt die Zustimmung hingegen bei knapp zwei Dritteln. Grundsätzlich strebt auch die irische Führung einen Zusammenschluss an. »Ich glaube, dass es ein vereintes Irland zu meinen Lebzeiten geben wird«, hatte Regierungschef Leo Varadkar im September gesagt.
Erstmals mehr Katholiken als Protestanten in Nordirland
Die Demografie spricht für die Republikaner. Erstmals leben mehr Katholiken in Nordirland als Protestanten, wie eine Volkszählung von 2021 gezeigt hat. Dabei war das Gebiet 1921 nach dem irischen Bürgerkrieg ausdrücklich als Heimstätte für diejenigen gegründet worden, die weiterhin Teil Großbritanniens sein wollten - und das waren in der Mehrheit Protestanten. Umso intensiver beharren nun die Unionisten, die sich als Briten sehen, auf ihren Positionen, wie Experten meinen.
Ziel der bisherigen Regelung zwischen Großbritannien und EU war, nach dem Brexit eine »harte Grenze« zwischen Nordirland und Irland zu vermeiden, um keine neuen Konflikte zu schüren. Doch die Umsetzung führte teilweise zu Engpässen bei Lebensmitteln oder Medikamenten. Haustiere konnten nicht mehr mit in den Urlaub nach Großbritannien genommen werden. Loyalisten fürchteten, dass die Kontrollen die Union gefährden.
Die britische sowie die irische Regierung und fast alle Parteien in Nordirland begrüßten die Rückkehr der DUP in die Einheitsregierung. Doch Hardcore-Unionisten kritisierten, Nordirland sei weiterhin von den Gesetzen der EU abhängig, zu deren Binnenmarkt die Region de facto auch nach dem Brexit gehört. Auch die »Inthronisierung« von O'Neill kritisieren sie. »Wir haben eine Sinn-Fein-Regierungschefin, aber nicht in meinem Namen oder dem Tausender anderer Unionisten«, sagte der Chef der Partei Traditional Unionist Voice, Jim Allister.
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