Logo
Aktuell Ausland

Erdogan kündigt Istanbul-Konvention auf - Empörung

Türkeiweit machen Organisationen 2020 mobil gegen Gerüchte, die Regierung wolle aus einem Abkommen gegen Gewalt an Frauen austreten. Dann wird es still um das Thema. Jetzt ist der Ärger groß.

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei. Foto: Uncredited/Turkish Presidency/AP/dpa
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei. Foto: Uncredited/Turkish Presidency/AP/dpa

ISTANBUL. Trotz Widerstands zahlreicher Frauenrechtsorganisationen ist die Türkei aus dem Istanbuler Abkommen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen ausgetreten.

Landesweit gingen am Wochenende Menschen gegen die Entscheidung auf die Straße und forderten deren Rücknahme. Juristen rügten, Präsident Recep Tayyip Erdogan könne nicht im Alleingang über den Ausstieg entscheiden. Die Opposition sieht einen drohenden Kulturkampf.

Der Austritt aus der Istanbul-Konvention wurde in einem Dekret Erdogans verkündet. Das internationale Abkommen war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden. Ziel ist ein europaweiter Rechtsrahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdogan selbst hatte die Konvention in Istanbul - dem Ort der finalen Einigung - unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident.

Der nun verkündete Ausstieg bestärke Mörder von Frauen, Belästiger und Vergewaltiger, schrieb die Organisation Frauenkoalition Türkei in einer Stellungnahme. Der Europarat nannte den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkommen »eine verheerende Nachricht«, die Bundesregierung sprach von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte die Türkei auf, den Austritt rückgängig zu machen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erklärte, Frauen verdienten einen starken Rechtsrahmen, um sie zu schützen.

Auch die Opposition in dem Mittelmeerland reagierte mit deutlicher Kritik: »Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen«, twitterte der Chef der kemalistischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, in einer Videobotschaft auf Twitter. Besonders die Rechtmäßigkeit der Entscheidung wird in Zweifel gezogen.

»Nein, der Präsident hat nicht das Recht, mit seiner Unterschrift aus der Konvention auszutreten«, sagte der Anwalt und Abgeordnete der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, der dpa. Weil die Regierung mit ihrem Partner, der ultranationalistischen MHP, eine Mehrheit im Parlament hält, wäre das eigentlich keine Hürde. Mit dem Dekret wähle der Präsident den Weg kalkulierter gesellschaftlicher Spaltung, sagte der in Deutschland aufgewachsene Yeneroglu. Er ist 2019 aus Erdogans AKP ausgetreten. Yeneroglu wertet das Vorgehen als »Machtdemonstration«, mit der Erdogan seine religiös-konservative Machtbasis auf sich einschwören wolle, und als »die Vorbereitung eines Kulturkampfes«.

Der Vizepräsident der Regierungspartei AKP, Fuat Oktay, verteidigte die Entscheidung. Oktay twitterte, die Türkei müsse andere nicht imitieren. Die Lösung für den Schutz von Frauenrechten »liegt in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen«.

Viele Menschen im Land seien der Überzeugung, dass die Istanbul-Konvention die Lebensweise homosexueller Menschen fördere - und sähen das als Bedrohung »traditioneller Werte«, sagte Yeneroglu. Kritische Töne kamen aber auch aus den eigenen Reihen: Der türkische Justizminister der AKP, Adbülhamit Gül, twitterte, Austritten aus internationalen Abkommen müsse das Parlament zustimmen.

Losgetreten wurde die Diskussion um einen möglichen Austritt im vergangenen Jahr von einer konservativ-religiösen Plattform. Deren Vertreter sahen Religion, Ehre und Anstand durch das Abkommen gefährdet. Regelmäßig riefen Frauenrechtsorganisationen zu Protesten auf. Doch dann wurde es von offizieller Seite stiller um das Thema, ein Austritt schien vorerst abgewendet. Auf Demonstrationen forderten Aktivisten weiter die Umsetzung des Abkommens. Gesetze, die auf Basis der Konvention verabschiedet wurden, seien von Gerichten nicht konsequent umgesetzt worden, kritisieren Frauenrechtsorganisationen.

Eines dieser Gesetze trägt die Nummer 6284 und berechtigt Betroffene laut der Organisation »Mor Cati« zum Beispiel dazu, Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, eine einstweilige Verfügung oder finanzielle Unterstützung zu bekommen. Millionen von Frauen, Kindern und LGBT-Menschen, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern, würden diese lebensrettenden Maßnahmen nun entzogen, sagte der Anwalt Veysel Ok der dpa.

Gewalt an Frauen und gegen LGBTQI+ sind in der Türkei, wie in vielen Ländern, ein verbreitetes Problem. LGBTQI+ steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, inter- und queere Menschen - und das Pluszeichen als Platzhalter für weitere Identitäten.

Nach Angaben von »Wir werden Frauenmorde stoppen« wurden allein im vergangenen Jahr mindestens 300 Frauen in der Türkei von Männern ermordet. Erst kürzlich heizten die Vergewaltigung und der Mord an einer 92-Jährigen sowie das Video einer brutalen Tat, bei der sich ein Mann an seiner Ex-Frau verging, die Diskussion um Gewalt gegen Frauen an. Bei Protesten in Istanbul am Samstag forderten Demonstrierende die Regierung lautstark auf: »Nehmt die Entscheidung zurück, wendet die Konvention an«. (dpa)