Logo
Aktuell Ausland

Dramatischer Johnson stiehlt Truss die Show

Als 56. Premierministerin der britischen Geschichte übernimmt Liz Truss in der Downing Street. Die Aufgabenliste ist gewaltig. Johnson sorgt derweil mit seiner Abschiedsrede für Aufsehen.

Empfang auf Schloss Balmoral
Queen Elizabeth II. empfängt Liz Truss auf Schloss Balmoral - und ernennt die Vorsitzende der Konservativen Partei zur neuen Premierministerin von Großbritannien. Foto: Jane Barlow
Queen Elizabeth II. empfängt Liz Truss auf Schloss Balmoral - und ernennt die Vorsitzende der Konservativen Partei zur neuen Premierministerin von Großbritannien.
Foto: Jane Barlow

Mit einem gewollt dramatischen Auftritt hat die selbst ernannte »Trägerrakete« Boris Johnson der neuen britischen Premierministerin Liz Truss die Show gestohlen.

Der bisherige Regierungschef sicherte seiner Nachfolgerin an deren ersten Tag im Amt zwar »nichts als energische Unterstützung« zu - allerdings machte der 58-Jährige seinem Ärger über das erzwungene Aus deutlich Luft und ließ Raum für Spekulationen über ein Comeback.

Die bisherige Außenministerin wandte sich am Dienstagnachmittag von derselben Stelle in der Downing Street an die Bevölkerung. Zuvor wurde sie von Königin Elizabeth II. auf Schloss Balmoral in Schottland zur 56. Premierministerin ernannt. »Die Queen hat die ehrenwerte Abgeordnete Elizabeth Truss zu einer Audienz empfangen und sie gebeten, eine neue Regierung zu bilden«, teilte der Palast mit.

Der wichtigste Job im Vereinigten Königreich wird für die 47-Jährige nun zur Mammutaufgabe: Rasant steigende Energiekosten, ihre Konservative Partei gespalten, die Gesundheitsversorgung in der Krise und der russische Krieg gegen die Ukraine sind nur die größten Herausforderungen, denen sie gegenübersteht. »Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam den Sturm überstehen, unsere Wirtschaft wieder aufbauen und zu dem modernen, hervorragenden Großbritannien werden, von dem ich weiß, dass wir es sein können«, sagte Truss.

Johnson bezeichnet sich zum Abschied als Trägerrakete

Klar ist schon jetzt, dass sich der Regierungsstil ändert. Die oft hölzern wirkende Truss hat bei weitem nicht das Charisma ihres jovial auftretenden Vorgängers. Wortspiele und Andeutungen liegen ihr fern. Ganz anders Johnson - der nutzte für seine künftige Rolle einen merkwürdig klingenden Vergleich. »Lassen Sie mich sagen, dass ich nun wie eine dieser Trägerraketen bin, die ihre Funktion erfüllt hat und sanft wieder in die Atmosphäre eintritt und unsichtbar irgendwo in einem entfernten Teil des Pazifiks versinkt«, sagte er vor der berühmten schwarzen Tür in der Downing Street. Seine Ehefrau Carrie sowie zahlreiche Mitarbeiter, Abgeordnete und Vertraute verfolgten die Ansprache an die Nation und klatschten begeistert Beifall.

Nach 1140 Tagen im Amt zeigte sich Johnson über den von seinem Kabinett erzwungenen Abschied verärgert: »Sie haben die Regeln auf halbem Weg geändert.« Zudem verglich sich der studierte Historiker mit einem römischen Machthaber: »Wie Cincinnatus kehre ich auf meinen Acker zurück.« Lucius Quintus Cincinnatus (519-430 v.Chr.) war nach erfolgreicher Schlacht zur Feldarbeit zurückgekehrt - übernahm aber erneut die Alleinherrschaft, als er darum gebeten wurde.

Johnson war nach zahlreichen Skandalen zum Rückzug gezwungen worden, ist aber bei der Parteibasis noch immer beliebt. Er sitzt weiterhin als normaler Abgeordneter im Parlament. Seinen Einfluss zu begrenzen, gilt als eine der wichtigsten Herausforderungen seiner Nachfolgerin.

Kabinett besteht aus Vertrauten

Truss besetzte noch am Dienstagabend die wichtigsten Kabinettsposten. So übernimmt Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng das wichtige Amt des Finanzministers und Truss' einstiger Europa-Staatssekretär James Cleverly das Außenministerium. Die konservative Hardlinerin Suella Braverman wird Innenministerin. Truss' wohl engste Vertraute Therese Coffey hat künftig als Vizeregierungschefin und Gesundheitsministerin eine wichtige Rolle inne. Parteigranden hatten gefordert, Truss solle auch Kritiker einbinden. Sie war am Vortag nach einem teils erbittert geführten parteiinternen Wahlkampf gegen Ex-Finanzminister Rishi Sunak nur mit relativ knapper Mehrheit zur Parteichefin gekürt worden. Doch Truss feuerte die prominentesten Sunak-Unterstützer.

Dass die Audienz bei der Queen nicht im Londoner Buckingham-Palast stattfand, sondern erstmals auf dem schottischen Landsitz Balmoral, lag an den andauernden Mobilitätsproblemen der 96 Jahre alten Monarchin. Die Königin hält sich traditionell von Mitte Juli bis Mitte September in Schottland auf. Mit Truss hat die Queen bereits 15 Premierminister und Premierministerinnen während ihrer 70 Jahre dauernden Regentschaft gesehen. Truss ist die dritte Frau an der Regierungsspitze nach Margaret Thatcher und Theresa May.

Sorge vor hohen Lebenshaltungskosten

In Begleitung ihres Ehemanns kündigte Truss schnelle Schritte an, um die Wirtschaft auf Vordermann zu bringen und den enormen Anstieg der Lebenshaltungskosten abzufedern. Auch in Großbritannien geht die Furcht um, dass die infolge des Ukraine-Kriegs hochschnellenden Energiekosten Millionen in finanzielle Schieflage bringen könnten.

Berichten zufolge sollen daher die Preise für Gas und Strom eingefroren werden - das könnte den Staat bis zu 100 Milliarden Pfund (116,6 Mrd Euro) kosten. Sollte Truss gleichzeitig an ihren Ankündigungen festhalten, sofort Steuern zu senken, dürfte das einen schwierigen Spagat bedeuten. Hinzu kommen die Probleme des chronisch unterfinanzierten Gesundheitsdiensts NHS und massive Unzufriedenheit im öffentlichen Sektor über Löhne und Gehälter. »Natürlich wird es nicht einfach, aber wir schaffen das. Wir werden Großbritannien in eine aufstrebende Nation verwandeln«, versprach Truss.

Doch erschwerend kommt für sie hinzu, dass sie sich dem rechten Flügel ihrer Partei angedient hat, zu dessen Dogmen ein schlanker Staat und eine harte Haltung gegenüber der EU gehören. Für viele ihrer Unterstützer sei die reine ideologische Lehre wichtiger als die Einheit der Partei, warnte der Politologe Anand Menon vom King's College in London. Ob sich Truss durchsetzen könne, hänge davon ab, wie viel Raum ihr gewährt werde. Um ihre Ziele zu erreichen, tauscht die neue Regierungschefin Berichten zufolge auch die wichtigsten Beamten aus. Als eine der wenigen Konstanten in der Downing Street gilt Spöttern zufolge nun Kater Larry.

Glückwünsche von Scholz und Biden

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gratulierte der neuen britischen Premierministerin zum Amtsantritt. »Ich freue mich darauf, die enge und gute Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland in diesen herausfordernden Zeiten als Partner und Freunde fortzusetzen«, erklärte Scholz nach Angaben des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung am Dienstagabend. »Für Ihre Amtszeit und die vor Ihnen liegenden Aufgaben wünsche ich Ihnen Kraft und viel Erfolg.«

Auch US-Präsident Joe Biden gratulierte Truss. »Ich freue mich darauf, die besondere Beziehung unserer Länder zu vertiefen und bei globalen Herausforderungen eng zusammenzuarbeiten«, schrieb Biden auf Twitter. Dazu gehöre auch die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine.

Biden und Truss sprachen am Telefon auch persönlich miteinander, wie die britische Regierung im Anschluss mitteilte. Die beiden hätten unter anderem über das besondere Verhältnis beider Staaten gesprochen, auf das sie weiter aufbauen wollten, ebenso wie auf ihre Zusammenarbeit in der Nato und in dem gemeinsamen Sicherheitsbündnis mit Australien.

© dpa-infocom, dpa:220906-99-652930/10