Die Separatisten Kataloniens erleben eine Wiedergeburt, die bis vor kurzen niemand für möglich gehalten hätte. Sechs Jahre nach der Niederschlagung des Trennungsversuchs sind es ausgerechnet die Befürworter der Unabhängigkeit der spanischen Region mit Justizflüchtling Carles Puigdemont an der Spitze, die aller Voraussicht nach demnächst darüber entscheiden, ob Ministerpräsident Pedro Sánchez weiterregieren darf oder die viertgrößte Volkswirtschaft der EU endgültig in eine gefährliche Blockade gerät.
Die Jahreskundgebung der Separatisten zeigte aber, dass es Sánchez schwer haben wird, die tief zerstrittenen »Catalanistas« davon zu überzeugen, dass es das Beste für sie ist, ihm, dem verhandlungsbereiten Sozialisten, zu helfen und eine Neuwahl zu verhindern, von der die als Katalonien-Feinde verschrienen Rechten und Ultrarechten profitieren könnten.
Sánchez braucht die Katalanen
Ohne die 14 Stimmen der Katalanen unter den 350 Abgeordneten im Unterhaus des Madrider Parlaments hätte Sánchez keine Mehrheit. Zunächst hat aber Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo von der konservativen Volkspartei (PP), der die vorgezogene Wahl am 23. Juli gewann, bis zum 27. September Zeit, ein Regierungsbündnis zu schmieden. Ihm werden allerdings kaum Chancen eingeräumt.
Es wäre dann an Sánchez, mit der linksnationalistischen ERC des katalanischen Regierungschefs Pere Aragonès und vor allem mit der Partei Junts des in Belgien im Exil lebenden Puigdemont zu verhandeln.
Uneinigkeit innerhalb der Bewegung
Bei der Demo anlässlich des katalanischen Nationalfeiertages »Diada« ging praktisch nur der »harte Kern« auf die Straßen Barcelonas. Die moderaten Separatisten, die sich zunächst mit der von Sánchez (bisher nur inoffiziell) angebotenen Amnestie für den gescheiterten Abspaltungsversuch vom Herbst 2017 begnügen, blieben vorwiegend zu Hause, wie man vor Ort zweifelsfrei feststellen konnte.
Das erklärt, weshalb »nur« zwischen 115.000 (laut Polizei) und gut 800.000 (nach Organisatoren-Schätzung) kamen. Deutlich weniger als die 1,8 Millionen von 2014, als die Bewegung noch Einheit ausstrahlte.
»Wir vertrauen den Politikern nicht, weder denen in Madrid noch denen der separatistischen Parteien«, sagte Rentner Jaume der Deutschen Presse-Agentur. Wenn kein Referendum vereinbart werde, werde man die Unabhängigkeit einseitig durchsetzen müssen. Notfalls werde man das Risiko von Gewalt und Opfern in Kauf nehmen müssen.
Der Aktivist der Bürgerbewegung Katalanische National-Versammlung (ANC), die als Hauptorganisator der Kundgebung fungierte, denkt wie seine »Chefin« Dolors Feliu. Die ANC-Präsidentin rief auf der Plaça d'Espanya unter dem ohrenbetäubenden Jubel ihrer Anhänger: »Unabhängigkeit oder Ablehnung aller Pakte, die keine Unabhängigkeit vorsehen.« Man dürfe keine Angst haben, sagt Jaume. »Die Angst führt zum Scheitern«, ist der 73-Jährige überzeugt.
Bunter Mix bei den Separatisten
Zu den unnachgiebigsten Separatisten gehören nicht nur Ältere wie Jaume, die die Unterdrückung der Katalanen unter der Diktatur von Francisco Franco (1939-1975) schmerzhaft am eigenen Leib erlebt haben. Am Montagabend sah man einen bunten Haufen. Viele Rentner, auch viele Familien mit kleinen Kindern, Menschen in teuren Klamotten, Alternative mit Piercing und bunten Haaren, Rollstuhl-, Fahrrad- und Motorradfahrer, und viele, viele Schüler.
Wie die Gruppe um Pau, Xenia, Laia, Carla, Berta und Mireia, die extra aus Vic rund 75 Kilometer nördlich von Barcelona angereist war. »Wir wollen über die Unabhängigkeit abstimmen dürfen«, rufen die 17-Jährigen unisono. Außerhalb der vielfältigen Metropole Barcelona mit ihren Zugezogenen aus dem In- und Ausland sei der Separatismus noch stärker, erzählen sie.
Es gehe um den Schutz der Kultur, der Sprache. »Wenn ich anderswo in Spanien bin, werde ich schief angeguckt oder angemacht, wenn ich mich auf Katalanisch unterhalte«, erzählt Pau, der mit seiner netten und tiefgründigen Art ebenso wie Jaume gar nicht dem in Madrid oft gezeichneten Typ des radikalen Separatisten entspricht.
Weniger nette Separatisten gab es aber auch. Pere Aragonès musste seine Teilnahme vorzeitig abbrechen, weil er von vielen beschimpft wurde. Dem 40-jährigen Regierungschef wird seine Gesprächsbereitschaft angelastet.
Bei einem Treffen mit ausländischen Korrespondenten hatte Aragonès noch vor der Demo von einer Annäherung der Positionen seiner linken ERC und der traditionell weniger kompromissbereiten liberalen Partei Junts von Puigdemont gesprochen. In der Tat hat Puigdemont jüngst anders als erwartet kein Referendum als unmittelbare Bedingung für eine Unterstützung der linken Zentralregierung in Madrid gefordert. Doch sehr viele Separatisten sind weniger kompromissbereit.
Mehr Einheit benötigt
Die große Frage ist nun in Spanien, woher der größte Widerstand gegen einen Pakt zwischen Sozialisten und Separatisten kommen wird. Von der Volkspartei PP von Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo, die vor der Zerstörung des Landes warnt? Von den Rechtspopulisten von Vox, die auf eine Neuwahl hoffen? Oder paradoxerweise von den radikalsten unter den Separatisten um ANC-Chefin Feliu, die dazu beitragen könnte, dass die »goldene Chance« (Aragonès) vertan wird?
Um die Stimmung bei Letzteren zu beruhigen, betonte Aragonès am Montag: Die Amnestie sei »nur ein wichtiger, aber unentbehrlicher Schritt hin zu einem Unabhängigkeitsreferendum«.
Paco Camas vom Forschungsinstitut Ipsos meinte im spanischen Fernsehen, es sei paradox, dass die Separatisten in Zeiten von Streit und eher schwachen Wahlergebnissen so viel Macht wie nie zuvor hätten. »Die Unabhängigkeitsbewegung hat gestern unabhängig von den Zahlen seine Kraft unter Beweis gestellt«, bilanzierte die katalanische Zeitung »La Vanguardia«, die alles andere als separatistisch ist.
Aber mehr Einheit sei nötig, wird überall betont. Das sagt man hinter vorgehaltener Hand im Regierungspalast in Barcelona, und das weiß auch Jaume: »Ohne Einheit gibt es keine Unabhängigkeit.« Da ist er mit Aragonès (ausnahmsweise) einer Meinung.
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