Die Welt trauert um einen großen Politiker und Versöhner: Der russische Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow, einer der Väter der deutschen Einheit, ist tot. Im Alter von 91 Jahren starb der frühere sowjetische Präsident am Dienstagabend nach langer schwerer Krankheit, wie das Zentrale Klinische Krankenhaus (ZKB) in Moskau mitteilte. Vor allem Politiker im Ausland würdigten Gorbatschow als Staatsmann von Weltrang, der den Kalten Krieg beendete und Millionen Menschen die Freiheit gab.
Seinen Platz in der Geschichte sicherte sich der am 2. März 1931 in Priwolnoje (Region Stawropol) im Nordkaukasus geborene Gorbatschow schon Ende der 1980er Jahre: Mit seiner Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) schuf er die Voraussetzung für das Ende der jahrzehntelangen Konfrontation zwischen Ost und West und auch für den Fall der Berliner Mauer 1989.
US-Präsident Joe Biden lobte am Mittwoch auch Gorbatschows Engagement für Abrüstung. »Als Führer der UdSSR arbeitete er mit Präsident (Ronald) Reagan zusammen, um die Atomwaffenarsenale unserer beiden Länder zu reduzieren - zur Erleichterung der Menschen weltweit, die für ein Ende des atomaren Wettrüstens beteten.« Kanzler Olaf Scholz sagte, Gorbatschow sei nun in einer Zeit gestorben, »in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist«, sondern in der der russische Präsident Wladimir Putin auch neue Gräben in Europa ziehe.
In den letzten Jahren war Gorbatschow - von den Deutschen gern »Gorbi« genannt - besonders noch als Buchautor aktiv und meldete sich zu aktuellen Themen wie im Ukraine-Konflikt zu Wort. Laut Weggefährten verurteilte der gesundheitlich zuletzt extrem geschwächte Gorbatschow auch den Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Eine offizielle Reaktion ist aber nicht überliefert. In den Jahren zuvor hatte Gorbatschow allerdings auch immer wieder beklagt, dass es nach der maßgeblich von Moskau unterstützten deutschen Einheit heute wieder Feindbilder wie zu Zeiten des Kalten Krieges gebe. Er sah auch eine Entfremdung zwischen Deutschen und Russen.
Kritik am »Triumphgehabe« des Westens
In seinem letzten Buch »Was jetzt auf dem Spiel steht« kritisierte er ein »Triumphgehabe« des Westens. »Gorbi« war enttäuscht, dass die Deutschen mit der EU und den USA im Ukraine-Konflikt eine Politik der Sanktionen gegen Russland fahren. »Das erklärte Ziel ist es, Russland zu bestrafen.« Die Strafmaßnahmen für die russische Annexion der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim von 2014 wollte er ebenso wenig einfach hinnehmen wie der Kreml. »Denn die Sanktionen haben nur eine einzige Wirkung: Die gegenseitige Entfremdung nimmt zu.«
Bei aller Schaffenskraft in den letzten Jahren mit vielen Interviews plagten Gorbatschow schwere gesundheitliche Probleme. Immer wieder kam er ins Krankenhaus. Seine letzte Ruhe finden soll »Gorbi« laut seiner Stiftung nach einer offiziellen Verabschiedung im »Haus der Gewerkschaften« an diesem Samstag (3. September) auf dem Neujungfrauenfriedhof in Moskau - für prominente Russen - neben seiner Frau Raissa. Ihren frühen Tod bezeichnete er stets als schweren persönlichen Schlag. Raissa starb 1999 in einer Klinik in Münster an Krebs.
Bei den 30-Jahr-Feiern 2019 zum Mauerfall fehlte Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dankte ihm damals in einem Brief: »Wir werden nicht vergessen, dass das Wunder der friedlichen Wiedervereinigung meines Landes und das Ende der Teilung Europas nicht möglich gewesen wäre ohne die mutigen und menschlichen Entscheidungen, die Sie damals persönlich getroffen haben.«
Durchbruch zu Freiheit und Demokratie in Osteuropa
Die in den 80er Jahren auch von DDR-Bürgern glühend aufgenommene neue politische Linie Moskaus hin zu mehr Offenheit gilt bis heute als Durchbruch zu Freiheit und Demokratie in Osteuropa. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lobte Gorbatschow zu dessen 80. Geburtstag als weitsichtige Persönlichkeit, die die friedliche Revolution mit ermöglicht habe. 1990 erhielt er dafür den Friedensnobelpreis.
Bis heute steht sein Name zudem für eine historische atomare Abrüstung, die er damals mit Reagan auf den Weg gebracht hatte. Vor seinem Tod musste »Gorbi« aber noch mit ansehen, wie ein Abrüstungsvertrag nach dem anderen endete. Er warnte vor einem neuen Rüstungswettlauf: »Die Gefahr einer Militarisierung von Weltraum und Cyberspace ist real und in ihren möglichen Folgen katastrophal.«
Einst wollte der damalige Kremlchef mit seinen Reformen noch den Kommunismus modernisieren - am Ende leitete er selbst den Zerfall der Supermacht Sowjetunion ein, das Aus des kommunistischen Machtimperiums. Viele seiner Mitbürger nahmen ihm das übel. In ihren Augen war Gorbatschow ein führungsschwacher Politiker ohne Machtinstinkt, der »Totengräber der Sowjetunion«. Er habe das Land mit politischen Fehlern in Chaos, Hunger und Armut gestürzt, hieß es.
Seinen Idealen blieb er treu
In einer Bilanz meinte der frühere Staats- und Parteichef einmal, die sowjetische Gesellschaft sei unreif gewesen für massive Reformen. Doch musste Gorbatschow selbst mit Herausforderungen kämpfen, denen er nicht gewachsen war. Zu seinen schwersten Momenten gehörte die Explosion eines Reaktors im Kernkraftwerk von Tschernobyl 1986. Sie führte nicht nur zur größten Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Nuklearenergie mit tödlichen Folgen radioaktiver Verstrahlung. Der Super-Gau steht auch als Symbol für den Anfang vom Ende der Sowjetunion.
Trotz oft breiter Ablehnung in der Heimat blieb Gorbatschow seinen Idealen treu. Wiederholt prangerte er die heutige Kremlpartei Geeintes Russland als »schlechte Kopie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« an. Die Verfassung, die Gerichte, das Parlament - alles sei eine »Imitation von Demokratie«. Präsident Wladimir Putin habe seine Macht so zementiert, dass anderen politischen Kräften keine Luft zum Atmen bleibe, meinte er. Putin selbst rang sich nur ein paar karge Worte zum Tod ab. »Besonders betonen möchte ich die große humanitäre, wohltätige und aufklärerische Tätigkeit, die Michail Sergejewitsch Gorbatschow all die letzten Jahre ausübte«, hieß es in einem vom Kreml veröffentlichten Kondolenzschreiben.
Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kritisierte Gorbatschow nicht zuletzt den Westen scharf. Dieser Konflikt habe eine »globale Unordnung« mit internationaler Kriegsgefahr geschaffen - und Russland sei nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als Partner behandelt worden. Die USA bezeichnete er sogar einmal als »Seuche der Welt«. Als einen Verrat des Westens an den Zugeständnissen an Moskau bei der deutschen Wiedervereinigung empfand er stets die Osterweiterung der Nato.
Innenpolitisch drängte der Autor vieler Bücher und Artikel auf Reformen. »Wir brauchen Demokratie. Ohne die wird es keine Modernisierung geben«, sagte Gorbatschow oft in seiner markanten südrussischen Mundart. Für ein solches Russland setzt sich die von ihm gegründete Stiftung in Moskau ein, die etwa ein Museum zur Wendezeit im Ostblock beherbergt. Auch die von ihm mit herausgegebene kremlkritische Zeitung »Nowaja Gaseta« kämpfte in einem zunehmend repressiven Klima in Russland um die Freiheit des Wortes. Mit dem Angriff auf die Ukraine stellte sie das Erscheinen in Russland ein.
Demontage eines totalitären Systems
Die Kommentatoren des Blatts sahen Gorbatschow als Propheten, der im eigenen Land nichts zähle, der unverstanden und allein sei. Dass er aber den »Sowjetbürger in sich selbst zerstörte«, ein totalitäres System demontierte und gleichzeitig mit dem Aufbau einer Demokratie begann, sei eine unschätzbare historische Leistung, schrieb die Politologin Lilija Schewzowa einmal.
Der prominente liberale russische Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski meinte trauernd, es liege auch heute in der Verantwortung der Russen, die damals geschenkte Freiheit zu nutzen. Nur Wenige Anführer hätten einen solchen Einfluss auf die Geschichte gehabt. »In seinen sechs Jahren an der Macht hat Michail Gorbatschow die Welt verändert«, unterstrich der Politiker.
Bis Gorbatschow am 11. März 1985 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählt wurde, hatten sich Kremlherrscher meist bis zum Tod an die Macht geklammert. Er und seine Frau Raissa gaben der Politik der kommunistischen Apparatschiks erstmals überhaupt auch ein menschliches Gesicht. Ohne Blutvergießen ließ er als Führer des größten Landes der Erde nicht zuletzt die in ein Bündnis mit der UdSSR gezwungenen Ostblock-Länder Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei sowie andere los.
Doch nicht überall verlief der Prozess friedlich. In Litauen schreiben Gorbatschow viele bis heute die Schuld am sogenannten »Blutsonntag« von Vilnius am 13. Januar 1991 zu. Damals spitzte sich der Konflikt zwischen der Baltenrepublik und Russlands Zentralregierung zu. Sowjetische Panzer rollten an wichtigen Gebäuden auf - 14 Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden verletzt.
Als die Sowjetunion mit den 15 Mitgliedsstaaten zerfiel und viele Völker ihre Unabhängigkeit erlangten, war das 1991 nach einem Putschversuch in Moskau und der Machtergreifung von Boris Jelzin (1931-2007) schließlich auch sein Ende. »Gorbatschow hatte kein Glück mit uns. Aber wir hatten Glück mit ihm. Das ist die Wahrheit, die wir erst noch lernen müssen«, meinte die Politologin Schewzowa.
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