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Das friedliche Leben im angegriffenen Land

Bilder aus dem zerbombten Mariupol gehen um die Welt. Viele Städte in der Ukraine sind vom Krieg gezeichnet. Doch nicht überall wird gekämpft. Wie erleben die Menschen im Westen des Landes den Krieg?

Lwiw
Ein küssendes Paar sitzt in der Innenstadt von Lwiw auf einer Bank. Foto: Bernat Armangue
Ein küssendes Paar sitzt in der Innenstadt von Lwiw auf einer Bank.
Foto: Bernat Armangue

Der Krieg ist fern an diesem Frühlingstag im Südwesten der Ukraine, in den Vorbergen der Karpaten. Rund um den Kurort Schidnyzja, der für sein Mineralwasser bekannt ist, treten sportlich gekleidete Radfahrer in die Pedale. Auch Jogger sind unterwegs.

Vor Souvenirständen stehen Familien, die zu anderen Zeiten normale Touristen wären, jetzt aber Flüchtlinge sind. Ungeachtet der Flüchtlingsströme und der schrecklichen Bilder aus den umkämpften Städten im Norden und Osten ist ein Großteil der Ukraine vom Krieg bisher unberührt. Einzig ein Plakat erinnert hier an den Krieg: »Russisches Kriegsschiff, verpiss dich«.

Am Grenzübergang Smilnyzja nahe der Großstadt Lwiw (früher: Lemberg) wollen nur wenige Reisende von Polen hinein in die Ukraine. Die Wartezeit beträgt weniger als eine Stunde. Die Beamten begnügen sich mit einer kurzen Kontrolle des Passes, einem schnellen Blick in den Kofferraum. Nicht einmal eine Frage nach Corona-Impfungen oder -Tests, obwohl Schilder am Gebäude darauf hinweisen. Auf der Gegenseite warten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen auf Flüchtlinge.

Sprit an den Tankstellen ist knapp

Nach der Einreise fällt sogleich auf, dass an den Tankstellen der Sprit knapp geworden ist. Viele haben nur noch Diesel - wenn überhaupt. An einer anderen Tankstelle an einer großen Europastraße in Richtung Karpaten stehen die Leute in einer langen Schlange für Flüssiggas an. Superbenzin mit 95 Oktan wird mit 20 Liter pro Auto rationiert. Nur Normalbenzin, in Deutschland inzwischen unüblich, kann unbegrenzt in den Tank fließen.

Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal hat seinen Landsleuten aber versprochen, dass sich die Situation bessern werde. Bei Kriegsbeginn vor jetzt schon fast einem Monat fiel der Kraftstoff weg aus dem Nachbarland Belarus, Russlands Verbündetem. Nun sind neue Lieferketten aus der EU im Aufbau. »Nach den neuen Regeln sind bereits die ersten 1000 Tonnen Treibstoff eingetroffen«, sagt der Regierungschef vor wenigen Tagen.

Das Innenministerium will die Versorgungslage verbessern. Nach dem ersten Kriegsschock wurden überall im Land Kontrollpunkte von Bürgerwehr und Polizei errichtet. Dadurch geriet jedoch der Lieferverkehr ins Stocken. »Gerade gelang es uns, die Zahl der Kontrollpunkte auf 1500 zu verringern, indem wir sehr viele der unnötigen Kontrollpunkte beseitigten, die nur die Bewegung erschwerten und Zeit nahmen«, sagte Innenminister Denys Monastyrskyj. Und in der Tat sind hier viele Checkpoints verwaist.

Im Kleinstädtchen Boryslaw herrscht bei sonnigem Wetter emsiges Treiben. Autos und Kleinbusse drängen sich durch die Hauptstraße. Händler bieten Obst und Gemüse an. An Lebensmitteln herrscht kein Mangel. Die Wechselstuben sind geöffnet. Bedingt durch die Einschränkungen der Nationalbank bieten sie für einen Euro 36 Hrywnja, die Landeswährung - 14 Prozent mehr als vor dem Krieg.

Sorge um die Getreideernte im Land

Bei der Fahrt durchs Land fallen die Vorarbeiten für die Aussaat auf. Äcker sind frisch gepflügt. Teils wird bereits gesät, mit der Hand. Groß ist die Sorge, dass die Getreideernte in der Ukraine wegen des Kriegs nur mager oder ganz ausfallen könnte. Dann droht nicht nur der Ukraine, sondern auch anderen Ländern eine Hungersnot. Viel von dem Getreide aus der früheren »Kornkammer der Sowjetunion« wird exportiert.

Auffällig auch, wie voll in den Vorbergen der Karpaten gerade die Spielplätze sind. An Präsenzunterricht ist für die vor dem Krieg geflohenen Schüler nicht zu denken. Unmittelbar nach Kriegsbeginn wurden landesweit mindestens zwei Wochen Ferien angeordnet. Vergangene Woche begann je nach örtlicher Sicherheitslage wieder der normale Unterricht. Mehrere TV-Sender übertragen zudem Fernunterricht, wie während der Corona-Quarantäne.

Einheitsprogramm im Fernsehen

Im Fernsehen läuft ansonsten seit den ersten Kriegstagen rund um die Uhr ein Einheitsprogramm, das auch von einigen Radiosendern übernommen wird. Nur einige Spartensender bringen Filme oder Kindersendungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat zudem angeordnet, dass auch die letzten Nachrichtensender aufs Einheitsprogramm umschwenken. Das Ziel: der nationalistischen Opposition um Ex-Präsident Petro Poroschenko und dessen TV-Nachrichtensendern die letzte Möglichkeit zur Kritik am Regierungskurs nehmen.

Die Folgen des Kriegs sind aber auch schon in einem Karpatenort zu sehen, wo viele Flüchtlinge Schutz suchen vor den russischen Truppen. In einem Supermarkt gibt es inzwischen erste Lücken in den Regalen. Vor allem Beuteltee und Konserven sind nur eingeschränkt erhältlich. Probleme gibt es auch bei Buchweizen und Getreidesorten. An anderer Stelle lockt der Duft von frischem Brot. Die Regale sind mit mehreren Sorten gefüllt.

Gemüse wie Kohl, Rote Bete, Möhren, Zwiebeln und Knoblauch, aber auch Eier, Käse und Fleisch sind erhältlich. An der Kasse funktioniert die Bankkarte. Einzig der Verkauf von Alkohol ist fast überall verboten. Die Restaurants sind vielleicht auch deshalb noch gut gefüllt, weil dort noch ausgeschenkt wird. Männergruppen lassen sich Bier und Kräuterschnaps bringen. Letzte Runde ist jedoch schon um 21.00 Uhr. Mit Beginn der Sperrstunde von 22.00 bis 7.00 Uhr darf niemand mehr auf der Straße sein.

© dpa-infocom, dpa:220322-99-626683/3