Die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland ist vorerst geplatzt. Nach einer scharfen Aussprache im Bundestag fiel ein Kompromissentwurf für eine Pflicht zunächst ab 60 Jahren am Donnerstag klar durch.
Dagegen stimmten 378 Abgeordnete, dafür 296, neun enthielten sich. Für eine Impfpflicht als Vorsorge für den Herbst hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) seit Monaten geworben. Wegen offenkundiger Meinungsverschiedenheiten brachte die Koalition aber keinen Regierungsentwurf ein. Die Ampel kassierte bei der zuvor gefassten Entscheidung über die Abstimmungsreihenfolge eine Schlappe.
Befürworter besorgt nach Scheitern
Befürworter einer Impfpflicht reagierten enttäuscht und besorgt auf das Scheitern. »Jetzt wird die Bekämpfung von Corona im Herbst viel schwerer werden«, erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf Twitter, fügte aber zugleich hinzu: »Es helfen keine politischen Schuldzuweisungen. Wir machen weiter.«
Das Abstimmungsergebnis sei eine Enttäuschung und mache den Kampf gegen die Corona-Pandemie spätestens im Herbst sehr viel schwerer, sagte der SPD-Politiker. »Um unnötige Opfer im Herbst zu vermeiden, sollte der Versuch nicht aufgegeben werden, bis dahin trotzdem eine Impfpflicht zu erreichen. Man darf nie aufgeben, wenn es um das Leben anderer Menschen geht. So denke ich als Arzt, so denke ich als Politiker.«
Der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann, der den Kompromissentwurf mitgetragen hatte, sagte im TV-Sender Phoenix, zumindest eine Beratungspflicht solle kommen.
Um eine Mehrheit zu erreichen, hatten Abgeordnete aus SPD, FDP und Grünen noch einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dafür weichten die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 Jahren um Dahmen ihren Vorschlag auf und einigten sich mit einer Abgeordnetengruppe um Ullmann, die für eine mögliche Impfpflicht ab 50 eintrat, auf eine gemeinsame Initiative. Sie wurde als einziger ausgearbeiteter Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt, fiel aber durch. An der Abstimmung nahmen 683 Abgeordnete teil, insgesamt hat der Bundestag 736 Abgeordnete.
Grüne reagieren enttäuscht
Auch die Grünen-Fraktion reagierte enttäuscht auf das Scheitern und machte die Union wesentlich dafür verantwortlich. »Das parteipolitische Taktieren der Union in dieser wichtigen Frage ist nicht nachvollziehbar und kann erhebliche Folgen für den Herbst haben«, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Der Grünen-Experte Janosch Dahmen schrieb bei Twitter, das Scheitern schmerze ihn als Arzt, weil das Risiko für vulnerable und ältere Menschen und die Belastung des Gesundheitspersonals hoch blieben.
»An unserem Ziel einer höheren Impfquote halten wir selbstverständlich fest und sind als Ampel gefordert, dieses Ziel zu erreichen«, kündigte Mihalic an. Ihre Fraktion wolle schnell das Gespräch mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) suchen.
Konkret sahen die Pläne für alle ab 60 Jahren eine Pflicht vor, bis zum 15. Oktober über einen Impf- oder Genesenennachweis zu verfügen. Für 18- bis 59 Jährige, die nicht geimpft sind, sollte zunächst eine Beratungspflicht kommen. Über die Pflichten und Impfangebote sollten die Krankenkassen die Bürger bis spätestens 15. Mai informieren.
Scholz ohne Wortmeldung in Debatte
Seit Beginn der Pandemie war eine allgemeine Impfpflicht lange über Parteigrenzen hinweg ausgeschlossen worden. Angesichts schleppender Impfungen sprachen sich Ende vergangenen Jahres Scholz und die Ministerpräsidenten der Länder doch dafür aus. Der Kanzler hatte ursprünglich eine Impfpflicht für alle Erwachsenen befürwortet. Er verfolgte die Debatte im Plenum, meldete sich aber nicht zu Wort.
Vor der Entscheidung über die Initiativen in der Sache scheiterte die Ampel-Koalition überraschend damit, ihre gewünschte Reihenfolge bei den Abstimmungen durchzusetzen. Vertreter von SPD, FDP und Grünen rechtfertigten es, dass über den Gesetzentwurf erst zum Schluss abgestimmt werden solle. Für diese Reihenfolge stimmten dann aber nur 339 Abgeordnete - und 345 Abgeordnete für den Antrag der Union, über den Gesetzentwurf für die Impfpflicht zuerst abzustimmen.
In der Aussprache vor den Abstimmungen kam es erneut zu einem harten Schlagabtausch. SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt warb auch angesichts der Folgen des Ukraine-Krieges für eine Impfpflicht: »Wir haben heute die Chance, im Herbst nicht auch noch mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zurechtkommen zu müssen.« Lauterbach appellierte an die Union: »Wir brauchen heute einmal ihre staatstragende Unterstützung, um im Herbst anders dazustehen als wir jetzt stehen.« Der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge warf der Ampel-Koalition dagegen vor, nicht ernsthaft auf die Union zugegangen zu sein.
FDP-Spitze erläutert Ablehnung
FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der einen Antrag gegen eine Impfpflicht initiiert hatte, sagte, es sei nicht Aufgabe des Staates, erwachsene Menschen gegen ihren Willen zum Selbstschutz zu verpflichten. Die Linke-Abgeordnete Sahra Wagenknecht forderte: »Die Corona-Impfung muss eine persönliche Entscheidung bleiben.« Nach dem Entwurf für die Impfpflicht wurden auch alle anderen vorgelegten Anträge abgelehnt.
Die FDP-Spitze erläuterte in einer schriftlichen Erklärung ihr Nein bei der Abstimmung. Im Moment lasse sich eine Impfpflicht »nicht ausreichend gut begründen«, erklärte darin unter anderem Parteichef und Finanzminister Christian Lindner. Die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla sprachen nach der Ablehnung der Impfpflicht von einem »guten Tag für die Grundrechte« und einer schweren Niederlage für Scholz und Lauterbach.
Impfkampagne nahezu zum Erliegen gekommen
Aktuell haben mindestens 63,2 Millionen Menschen oder 76 Prozent aller Einwohner den Grundschutz mit der nötigen zweiten Spritze. Die Impfkampagne ist aber nahezu zum Erliegen gekommen. Seit Mitte März greift bereits eine erste Corona-Impfpflicht für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen. Der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sagte der »Rheinischen Post«: »Dass die Gesundheitsämter jetzt noch Arbeitsverbote für ungeimpfte Personen im Gesundheitswesen aussprechen, halte ich für nicht vorstellbar.«
Der Sozialverband Deutschland appellierte an Parlament und Regierung, die Gespräche über eine allgemeine Impfpflicht weiterzuführen. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte, nun sei es noch wichtiger, dass jeder seinen Beitrag für eine möglichst hohe Impfquote leiste. Der Patientenschützer Eugen Brysch sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, es sei gut, dass der Bundestag die Selbstbestimmung gestärkt habe. Es sei »kein Gegensatz, für die Impfung zu werben und bei der Impfpflicht skeptisch zu sein«. Kassenärzte-Chef Andreas Gassen sagte, der Bundestag habe letztlich doch das politische Versprechen gehalten, keine Impfpflicht einzuführen.
© dpa-infocom, dpa:220407-99-826581/31