KIRCHENLAMITZ. Die Geschichten, die Manfred Ludwig den Schülern einer fünften Klasse erzählt, sind keine Gute-Nacht-Geschichten. Er erzählt von abgetrennten Armen, von Hirnschäden, von Toten.
Er zeigt Fotos von zerquetschten Fahrrädern, von einem Kindersarg neben einem Bahnübergang. Die meisten Geschichten sind in unmittelbarer Nähe der Schüler passiert, zu denen er heute spricht.
Manfred Ludwig ist Präventionsbeauftragter der Bundespolizei im bayerischen Selb. Er möchte den Schülern der Grund- und Mittelschule in Kirchenlamitz nahe Bayreuth bei seinem Besuch keine Angst machen - er möchte sie warnen. Vor dem Spielen im Gleis, vor dem Überqueren eines Bahnüberganges mit heruntergelassener Schranke, vor Mutproben - und vor Selfies im Gleisbett.
»Mit solchen Fotos wollen manche Mädchen in sozialen Medien ihre Freundschaft zeigen«, erklärt der Polizeimitarbeiter. Die zwei verbundenen und scheinbar unendlichen Schienen empfänden einige Mädchen als Symbol für eine enge Freundschaft. Eine lebensgefährliche Geste.
Im schwäbischen Memmingen starben 2011 zwei Mädchen auf den Gleisen. Zwei Jahre später verunglückten zwei Freundinnen im westfälischen Lünen tödlich. »Ihre Instagram-Profile sind gelöscht. Sie brauchen jetzt keine Fotos mehr«, sagt Ludwig zu den Schülern. Im oberfränkischen Hof holten Ludwigs Kollegen erst vor wenigen Wochen zwei 14-Jährige samt ihrer Handys aus dem Gleisbett - noch bevor ein Zug kam.
»Können wir die Fotos nicht auf Gleisen machen, die nicht mehr benutzt werden?«, fragt die zehnjährige Lea. »Ihr wisst nie, ob wirklich keine Züge mehr fahren«, meint der Polizist. »Wenn ihr die Fotos unbedingt für eure sozialen Medien braucht, stellt sie mit Bildbearbeitungsprogrammen nach«, rät Ludwig. Andere Experten würden vielleicht auch davon abraten: Die falschen Fotos könnten schließlich weitere Kinder auf die Idee bringen, auf echte Schienen zu gehen.
»Fotos auf Bahnanlagen werden auch als Mutprobe gemacht«, sagt eine Sprecherin der Deutschen Bahn. Das Phänomen nehme definitiv zu. Manche Jugendliche kletterten für Fotos auf stehende Züge oder Oberleitungsmasten. Die Oberleitungen sind ebenfalls eine tödliche Gefahr. »Der Strom kann bis zu einem Meter überspringen«, erklärt Ludwig den Schülern. Brennend stürzte 2017 ein 14-Jähriger in Bremen von einem Mast zu Boden, nachdem er Handyfotos machen wollte.
Laut Bundespolizei starben 2018 neun Menschen durch Bahnstrom, darunter ein Kind. Insgesamt verunglückten drei Kinder an Bahnanlagen tödlich. Wie vielen Kindern Fotos zum Verhängnis werden, ist unklar. Auch die Anzahl der Gleis-Selfies ohne schlimme Folgen erfasst die Bahn nach eigenen Angaben nicht.
Um Unfälle zu verhindern, arbeiten Bahn und Bundespolizei eng zusammen, wie beide betonen. Unter anderem mit der Kampagne »Sicher drüber« für Bahnübergänge. Den Selfie-Trend hat die Bahn schon 2015 in einem Youtube-Video aufgegriffen. »Auf die Gefahren kann man nicht oft genug aufmerksam machen«, sagt ein Pressesprecher der Bundespolizei. Für die Präventionsbeamten stelle die Polizei Medienpakete zusammen, mit denen sie an die Schulen gehen könnten.
Manfred Ludwig hat seinen Vortrag für die Schüler in Oberfranken eigens auf ihre Region zugeschnitten. Er kennt die unbeschrankten Bahnübergänge in der Nähe. Er hat Zeitungsberichte von Unfällen in der Gegend dabei. Auch in achten Klassen klärt er Schüler auf. Wenn Freunde eine Mutprobe fordern, wie Steine auf Schienen legen oder vor einem Zug über die Gleise laufen, rät Ludwig: »Lieber einmal Angsthase sein.« Wer auch mal Nein sagen könne, sei ebenfalls cool.
Ludwig ist drei bis vier Mal pro Woche an Schulen unterwegs. Dabei betreut der 58-Jährige gerade mal vier Landkreise. Besonders die Aufklärungsarbeit für Selfies scheint wie ein Fass ohne Boden. »Ich erkenne keinen Rückgang«, sagt Ludwig. Die Vorfälle blieben auf relativ hohem Niveau. Auch Lehrer berichteten immer wieder davon.
Die Schüler in Kirchenlamitz hören aufmerksam zu und stellen viele Fragen. Nur am Ende sind fast alle sprachlos. Ludwig zeigt ihnen zwei Videos von Überwachungskameras. Auf ihnen ist zu sehen, wie sich Kinder nur in letzter Sekunde vor einem Zug in Sicherheit bringen konnten. »Die Züge sind oft so leise, so dass ihr sie gar nicht hört«, erläutert Ludwig. Und auf den glatten Schienen bräuchten die Züge sehr lange zum Bremsen. »Bis sie stehen, fahren die Züge noch eine Strecke so lang wie zehn Fußballfelder.«
Die Schulung mitsamt den Alptraum-Geschichten könnte auch für Erwachsene ratsam sein. Fotos auf Bahngleisen finden sich im Netz nämlich auch von balancierenden Erwachsenen, von Liebespaaren, von Menschen beim Spaziergang mit ihren Hunden, von professionellen Foto-Shootings. Allein unter dem Hashtag #Gleise zeigt Instagram knapp 40 000 Bilder an. Die wenigsten stammen von Kindern. (dpa)