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»Berliner Realität«: Karlsruhe prüft Wahl-Pannen von 2021

Was war da los, bei der Bundestagswahl 2021 in Berlin? Corona-Regeln und ein Marathon spielten eine Rolle, aber vor allem eklatante Mängel bei der Vorbereitung der Wahl. Welche Folgen die haben, wird nun entschieden.

Bundesverfassungsgericht
Der Zweite Senat des Bundeverfassungsgerichts verhandelt ab heute über die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag. Foto: Bernd Weißbrod/DPA
Der Zweite Senat des Bundeverfassungsgerichts verhandelt ab heute über die Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag.
Foto: Bernd Weißbrod/DPA

Fast zwei Jahre nach der Bundestagswahl klingt es noch immer kaum vorstellbar, was da am 26. September 2021 in Berlin los war: lange Warteschlangen vor Wahllokalen, zu wenige Wahlkabinen, Stimmabgaben nach 18.00 Uhr, falsche und fehlende Stimmzettel sowie in der Folge Wahlunterbrechungen teils um mehr als 100 Minuten.

Den Bundestag wählten Minderjährige und Menschen, die aus anderen Gründen dazu nicht berechtigt waren, mit. »Schwere organisatorische Mängel« nannte der Berliner Wahlleiter Stephan Bröchler das am Dienstag im Bundesverfassungsgericht. Er war damals noch nicht im Amt - harrte aber selbst in Pankow in einer Warteschlange aus, wie er erzählte.

Das höchste deutsche Gericht prüft die Pannen bei der Bundestagswahl 2021 in Berlin und deren Folgen. Es geht unter anderem darum, in wie vielen Berliner Wahlbezirken die Wahl wiederholt werden muss und ob in dem Fall die Abgabe der Zweitstimme - also für eine Partei beziehungsweise Gruppierung - reicht.

Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion

Hintergrund ist eine Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag. Aus deren Sicht müsste die Wahl in mehr Wahlbezirken wiederholt werden, als vom Plenum mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossen. Trotz vieler Nachfragen der Karlsruher Richterinnen und Richter insbesondere an den Vertreter des Bundestags war die Verhandlung anders als geplant schon nach einem Tag vorbei. Eine Entscheidung wird jedoch erst in einigen Monaten erwartet.

Das Thema ist brisant: Dem Verfassungsgericht liegen laut einem Sprecher 61 weitere Beschwerden mit Bezug auf die Bundestagswahl vor, darunter eine der AfD-Fraktion. Beim Bundestag wurden 1713 Einsprüche gegen die Bundestagswahl im Land Berlin erhoben; einer vom damaligen Bundeswahlleiter. Das waren rund achtmal so viele Einsprüche wie bei früheren Wahlen, wie Richter Peter Müller sagte. Eine »bisher nicht gekannte Zahl«. Die Wahlfehler könnten dazu geführt haben, dass Menschen nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hätten.

Manches, was der Zweite Senat zu hören bekam, klang ernüchternd. So wies Müller - nach eigenem Bekunden einst selbst als Wahlhelfer im Einsatz - darauf hin, dass trotz der parallel stattfindenden Wahlen etwa zum Berliner Abgeordnetenhaus die Kapazitäten nicht in allen Teilen der Hauptstadt erhöht worden waren. Ob das keinem aufgefallen sei, fragte er den Landeswahlleiter. Bröchlers Antwort trocken: »Es ist Berliner Realität.« Es gebe eine lange Tradition, dass die Bezirke eigenständig seien. Es gebe aber keine Kontrollinstanz.

Teilweise Wiederholung beschlossen

Der Bundestag hatte am 10. November 2022 mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen beschlossen, dass die Wahl lediglich teilweise wiederholt wird. Betroffen sind 327 der 2256 Wahlbezirke der Hauptstadt sowie 104 der 1507 Briefwahlbezirke. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist der Beschluss aber rechtswidrig, unter anderem weil der Bundestag die Wahl in sechs vom Bundeswahlleiter angefochtenen Wahlkreisen nicht insgesamt für ungültig erklärt habe.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Patrick Schnieder, hob in seiner Argumentation vor Gericht darauf ab, die Legitimation der Wahl müsse wiederhergestellt werden. Es gehe um Bürgerrechte, betonte der Vertreter der Beschwerdeführerin, Prof. Bernd Grzeszick.

Für den Bundestag sagte Prof. Heiko Sauer als Bevollmächtigter, man wisse nicht, wie viele Nichtwähler wegen des Chaos nicht gewählt hätten. Die Wahlbeteiligung habe nur knapp unter dem Bundesschnitt gelegen. Zudem stellte er infrage, warum eine Wahlwiederholung in den beanstandeten Fällen nicht reichen solle. Es gebe keinen Grund, auch nicht von Wahlfehlern betroffene Abstimmungen neu durchzuführen.

Unterschiedlich bewerteten die Seiten auch die Frage, ob Wartezeiten zum Beispiel ab einer halben Stunde an sich schon Wahlfehler seien. Die neue Bundeswahlleiterin Ruth Brand sieht das so. Sie erklärte unter anderem, dass Fotos und Videos von Warteschlangen etwa in sozialen Netzwerken andere Menschen vom Wählen abschrecken könnten.

Auch mögliche Beeinflussung der Wahl ist Thema

Ferner ging es um mögliche Beeinflussung der Wahl, wenn Menschen ab 18.00 Uhr am Wahlabend erste Prognosen auf ihrem Smartphone abrufen können und danach noch zur Urne gehen - und ob jetzt mit zeitlichem Abstand nicht noch gezielter gewählt werden könnte. Abwägen muss der Senat auch zwischen dem Interesse an einer Korrektur des Wahlausgangs und der Frage, ob das gewählte Parlament Bestandsschutz genießt.

Dass erst jetzt über die Pannen-Wahl verhandelt wurde, liegt laut Richter Müller an dem zweistufigen Prüfverfahren: Zunächst ist das Sache des Bundestags, erst später des Verfassungsgerichts. Auch wegen der hohen Zahl an Einsprüchen sei selbst bei größtmöglicher Beschleunigung kein früherer Zeitpunkt möglich gewesen, sagte Müller.

Für die Wiederholungswahl - ganz gleich in welchem Umfang - gibt es noch keinen Termin. Landeswahlleiter Bröchler hatte im Juni erklärt, die Wiederholungswahl nach nur 60 Tagen durchzuführen, sobald das Verfassungsgericht das Urteil gefällt habe. Er bat den Senat nun, die Neuwahl möge nicht in die Adventszeit, in die Zeit um Weihnachten oder Neujahr fallen. Denn dann könnte es etwa an Wahlhelfern mangeln.

Die ebenfalls von den Pannen am Wahltag im September 2021 betroffene Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses war am 12. Februar dieses Jahres komplett wiederholt worden. Kurz zuvor hatten die Verfassungsrichter und -richterinnen in Karlsruhe im Eilverfahren grünes Licht gegeben. In einer nachgereichten Begründung hieß es, nach der föderalen Ordnung des Grundgesetzes sei das Bundesverfassungsgericht keine zweite Instanz über den Landesverfassungsgerichten, die deren Urteile durchgängig und in vollem Umfang nachprüfe. (Az. 2 BvR 2189/22)

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