Nach wochenlangen Unruhen in Bangladesch mit vielen Toten und der Flucht der autoritären Ministerpräsidentin Sheikh Hasina soll der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus seinem Heimatland wieder Ruhe bringen. Kurz nach seiner Rückkehr von einem Aufenthalt in Frankreich wurde der auch als »Bankier der Armen« bekannte 84-Jährige mit dem Rückhalt des mächtigen Militärs als Übergangsregierungschef vereidigt. Yunus soll so lange an der Macht bleiben, bis es Neuwahlen gibt. Wann diese stattfinden, war zunächst unklar. Er ist der Wunschkandidat der Teilnehmer an den Massenprotesten gegen die Regierung.
Die Zeremonie im Bangabhaban, der offiziellen Residenz des Staatspräsidenten Mohammed Shahabuddin in der Hauptstadt Dhaka, begann am späten Abend mit einer Schweigeminute zum Gedenken an die Getöteten bei den Unruhen. Anschließend las ein Imam aus dem Koran vor. Neben Yunus nahm der Präsident 13 ernannten Mitgliedern des künftigen Übergangskabinetts den Eid ab - zwei davon sind Anführer der Studentenproteste. Weitere drei Kabinettsmitglieder sollten später ihren Eid ablegen. Geladen waren unter anderem Militärs, Regierungsbeamte und weitere Mitglieder der Protestbewegung. Aus der Partei der Ex-Regierungschefin, der Awami-Liga, war niemand anwesend, wie es aus Kreisen um den Präsidenten hieß.
Hoffnungen ruhen auf Yunus
Auf dem Wirtschaftsfachmann Yunus - ein entschiedener Kritiker Hasinas - liegen die Hoffnungen, das Land mit seinen mehr als 170 Millionen Einwohnern aus der Krise führen zu können. Bangladesch könne das Versprechen einer Wiedergeburt erfüllen, meinte Yunus nach seiner Ankunft am Flughafen der Hauptstadt, wo ihn Armeechef Waker-uz-Zaman sowie Anführer der Studentenproteste empfangen hatten. Es gebe die Hoffnung, dass die Jugend das Land aufbauen könne. »Bangladesch kann ein wunderbares Land sein.« Seinen Landsleuten rief er zu, die Nation müsse vor Gewalt bewahrt werden.
Die Übergangsregierung habe eine Möglichkeit, Bangladesch wieder in Richtung echte Demokratie zu führen, sagt der Experte Thomas Kean von der regierungsunabhängigen Crisis Group. Er erwarte, dass Yunus politische und wirtschaftliche Reformen umsetzen möchte. Dies könnte allerdings schwierig werden, wenn die Bangladesh Nationalist Party - die zweite große Partei neben der Awami-Liga Hasinas - auf schnelle Neuwahlen dringe.
Die langjährige Regierungschefin war am Montag nach den Massenprotesten und tödlichen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften zurückgetreten und mit einem Militärhubschrauber zunächst nach Indien geflohen. Bei den Protesten seit Juli starben örtlichen Medien zufolge mehr als 400 Menschen.
Nach der Flucht Hasinas wurde die Entscheidung für Yunus bei einem Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Protestbewegung und des Militärs getroffen. Die Streitkräfte hatten Beobachtern zufolge zuletzt de facto die Macht in dem südasiatischen Land inne.
Auch nach dem Rücktritt der Regierungschefin und den Plänen für eine Übergangsregierung kam es Berichten zufolge weiter vereinzelt zu Gewalt. Es habe erneut Tote gegeben, die meisten seien Anhänger Hasinas, gewesen, hieß es. Auch wurden etliche Polizeistationen niedergebrannt. Gleichzeitig übernahmen Studenten einige Aufgaben der Polizei. An mehreren Kreuzungen in der Hauptstadt regelten sie etwa den Verkehr. Andere säuberten Wände von Graffitis, die gegen die frühere Regierung gerichtet waren.
Erfinder der Mikrokredite
Yunus ist der Erfinder der Mikrokredite. Mit seiner in den 80er Jahren gegründeten Grameen-Bank vergab er kleine Darlehen an arme Menschen, die andernfalls keine normalen Bankkredite erhalten hätten, damit sie sich selbstständig machen können. Überall auf der Welt fand er Nachahmer: Als Yunus im Jahr 2006 den Friedensnobelpreis erhielt, gab es Kleinkreditgeber in mehr als 100 Ländern.
Auch bei den Protesten spielte das Thema Armut eine wichtige Rolle. Trotz eines wirtschaftlichen Aufschwungs unter Hasina - das Land hat die zweitgrößte Textilindustrie der Welt - haben viele Menschen Mühe, über die Runden zu kommen: Die Arbeitslosigkeit und Inflation sind hoch. Aufgrund einer geplanten, kontroversen Quotenregelung im Staatsdienst fürchteten viele Demonstranten, dass der Zugang zu den begehrten Jobs in Gefahr war, was die Proteste auslöste. Das Oberste Gericht drehte die Regelung zwar weitgehend zurück, doch dauerten die Proteste gegen die Regierung an.
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