Boris Johnson hat einen Ruf als Spieler. Daher dürfte sich der britische Premierminister mit seiner Ankündigung ganz in seinem Element gefühlt haben. »Jetzt ist es an der Zeit, eine Reihe großer neuer Wetten auf die Kernenergie einzugehen«, kündigte Johnson in seiner Hauszeitung »The Telegraph« an.
Erklärtes Ziel: »Wir können nicht zulassen, dass unser Land von russischem Öl und Gas abhängig ist.« Zwar will Johnson auch Wasserkraft sowie Windenergie, wo Großbritannien führend ist, weiter ausbauen. Doch im Gegensatz zu Deutschland setzt der Regierungschef der Atommacht auf die nukleare Option. Atomkraft? Ja, bitte!
Johnsons Plan: Acht neue Atomreaktoren bis 2030
Es sind - wie eigentlich immer bei Johnson - ziemlich ambitionierte Pläne. Bis 2030 könnten 95 Prozent der Elektrizität im Land kohlenstoffarm sein, also aus Sonne, Wind, Wasser und Atom stammen, mehr als 40.000 neue Jobs so entstehen, ließ der Premier ankündigen. Das Kernelement der »Energiesicherheitsstrategie« sind acht neue Atomreaktoren bis 2030 - einer pro Jahr, wie Johnson vorrechnete. Damit will der Premier einen gewaltigen Teil des Energiebedarfs decken. Bis 2050 soll sich die Produktion durch Atomenergie auf 24 Gigawatt mehr als verdreifachen und bis zu 25 Prozent des erwarteten Strombedarfs ausmachen.
Das Vorhaben stößt im Land durchaus auf Wohlwollen. Kernenergie hat breite Rückendeckung, auch die größte Oppositionskraft Labour stellte klar, sie sei eine »pro-Atom-Partei«. Das steht in scharfem Kontrast zu Deutschland, wo der Atomausstieg politisch wie gesellschaftlich weitgehend Konsens ist und die Bundesregierung trotz der deutlich größeren Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland einen Kurswechsel ausschließt. Stattdessen orientiert sich Johnson - wie so oft - am traditionellen Erzrivalen Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron in diesem Jahr eine »Renaissance der Atomkraft« ankündigte.
Lange war Großbritannien Vorreiter bei der Kernenergie. Im nordwestenglischen Calder Hall eröffnete Queen Elizabeth II. 1956 das erste kommerzielle Atomkraftwerk der Welt. Mittlerweile sind nur noch sechs Werke in Betrieb, von denen fünf innerhalb des nächsten Jahrzehnts vom Netz gehen. »Unser Ziel ist, mit einer Technologie, für die wir Pionierarbeit geleistet haben, erneut weltweit führend zu sein«, betonte Johnsons Regierung nun selbstbewusst.
Energiepreise explodieren
Der konservative Politiker steht unter Druck. Zwar steigen die Energiekosten nicht nur in Großbritannien. Doch hier hat dies deutlich stärkere Auswirkungen. Preise für Strom und Gas explodieren: Im April ging es im Grundtarif um 54 Prozent hoch, und im Herbst wird eine ähnlich Anhebung erwartet. Die Maßnahmen der Regierung reichen nach Einschätzung von Experten bisher bei weitem nicht aus, Millionen Verbraucher vor Energiearmut zu bewahren.
Bei allen Versprechen Johnsons: Niemand weiß, wie lange es wirklich dauert, bis die acht versprochenen Kernkraftwerke am Netz sind. Das zeigt das Beispiel Hinkley Point C. Der Reaktor in der südwestenglischen Grafschaft Somerset wird wohl allerfrühestens 2025 fertig, läuft also rund ein Jahrzehnt hinter der Planung - und gilt mit schätzungsweise 25 Milliarden Pfund (29,5 Mrd Euro) Baukosten als »teuerstes Objekt auf der Erde«. Das einzige andere aktuelle Kraftwerksprojekt Sizewell C im ostenglischen Suffolk wird wohl frühestens 2034 Energie generieren. »Genau wie bei Öl und Gas aus der Nordsee können diese neuen Anlagen unmöglich rechtzeitig bereit sein, um unsere Probleme zu lösen«, kritisierte Greenpeace.
Kritik an Atomplänen der Regierung
Hier kommt eine weitere Idee Johnsons ins Spiel, genannt SMR (Small Modular Reactor), kleine modulare Reaktoren. Deutlich kleiner und günstiger als große Kraftwerke sollen die Reaktoren des britischen Konzerns Rolls Royce jeweils eine Million Haushalte versorgen können. Erst im November 2021 investierte die Regierung weitere 210 Millionen Pfund in die Entwicklung.
Experten sehen allerdings offene Fragen. »Jedes Nuklearprojekt - einschließlich der ungetesteten (und nicht kleinen) SMR - ist unweigerlich enorm teuer, sprengt Zeit und Budget und hinterlässt eine Altlast, mit der wir immer noch nicht umzugehen wissen«, sagte Sarah Darby von der Universität Oxford. Daniel Newport vom Tony Blair Institute urteilte: »Eine Strategie für die 2030er und 2040er Jahre, die nichts zur Lösung der aktuellen Krise beiträgt.« Atom ist mehr ein langfristiges Rezept. Kurzfristig würden die Energierechnungen weiter steigen, räumte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng ein.
Verwundert sind Analysten vor allem darüber, dass die Regierung die reichlich vorhandene Windenergie eher stiefmütterlich behandele. Eine naheliegende Lösung der akuten Preiskrise werde zudem nach wie vor ignoriert: Eine flächendeckende Wärmedämmung ist nach wie vor nicht in Aussicht. Vielerorts sind Fenster noch einglasig.
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