Die AfD hat keinen uneingeschränkten Anspruch auf einen Vizepräsidenten-Posten im Bundestag. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung stehe unter dem Vorbehalt der Wahl des Kandidaten durch die anderen Abgeordneten, teilte das Bundesverfassungsgericht am Dienstag mit.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter wiesen eine Organklage der AfD-Fraktion als »offensichtlich unbegründet« zurück. (Az. 2 BvE 9/20)
Die Entscheidung kam überraschend. Offiziell angekündigt war für den Vormittag nur die Urteilsverkündung in einem zweiten Verfahren zum Thema. Hier ging es um die Klage eines einzelnen AfD-Abgeordneten, die ebenfalls erfolglos blieb (Az. 2 BvE 2/20). Unmittelbar im Anschluss veröffentlichte das Gericht dann unangekündigt den zentralen Beschluss zur Klage der Fraktion. Dieser erging schriftlich ohne vorherige Verhandlung und wurde deshalb nicht verlesen.
Seit ihrem Einzug in den Bundestag 2017 hatte die AfD als einzige Fraktion noch nie einen Stellvertreter-Posten im Präsidium inne. Die anderen Parteien hatten sämtliche Kandidatinnen und Kandidaten durchfallen lassen, indem sie ihnen die erforderliche Mehrheit verweigerten. Denn viele Abgeordnete wollen die Rechtspopulisten prinzipiell nicht im Leitungsgremium des Bundestags vertreten sehen.
AfD auch weiter außen vor
Auch nach der Bundestagswahl im September vergangenen Jahres blieb die AfD bei den Wahlen zum neuen Präsidium außen vor. Ihr Bewerber Michael Kaufmann verfehlte die erforderliche Stimmenzahl in zwei Wahlgängen im Oktober und Dezember deutlich. Die Fraktionsspitze kritisierte das als »fatales Signal für die demokratische Kultur in unserem Land«, der AfD werde ihr Platz »systematisch vorenthalten«.
Die Geschäftsordnung des Bundestags sieht vor, dass jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin stellt. Gleichzeitig steht dort der Satz: »Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.«
Die AfD war der Ansicht, dass das Wahlverfahren so ausgestaltet sein müsste, dass jede Fraktion auch ihren Posten einnehmen kann. Das sehen die Verfassungsrichter anders: »Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Deutschen Bundestages, die (...) Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter und Stellvertreterinnen mit prozeduralen Vorkehrungen zu versehen, um ein Wahlergebnis zugunsten der Antragstellerin zu fördern, besteht nicht«, teilte der Zweite Senat zu seiner Entscheidung mit.
Nur Recht auf ordnungsgemäße Wahl
Das Grundgesetz sehe ausdrücklich eine Wahl »und gerade kein von einer Wahl losgelöstes Besetzungsrecht der Fraktionen« vor. Nur so könne der »legitimatorische Mehrwert« erreicht werden. Der Anspruch der Fraktion sei darauf beschränkt, einen Kandidaten vorzuschlagen und dass die Wahl ordnungsgemäß durchgeführt werde.
Der Bundestagspräsident oder die -präsidentin repräsentiert den Bundestag nach außen und bekleidet protokollarisch das zweithöchste Amt im Staat, kommt also noch vor der Kanzlerin oder dem Kanzler. Im Wechsel mit den Stellvertretern leitet er oder sie die Sitzungen und wacht über die Einhaltung der parlamentarischen Ordnung.
Die AfD-Fraktion kritisierte die Entscheidung als »nicht nachvollziehbar und unverständlich«. »Das war heute alles andere als eine Sternstunde für die Demokratie und das Bundesverfassungsgericht. Ein schlechter Tag für Deutschland«, teilte der Parlamentarische Geschäftsführer und Fraktionsjustiziar Stephan Brandner mit.
Die Unionsfraktion begrüßte, dass die AfD »dem Bundestag ihre Kandidaten nicht aufzwingen« könne. »Einmal mehr wurde der Opfermythos der AfD in Karlsruhe widerlegt«, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) der dpa. »Wir Abgeordnete entscheiden in freier und geheimer Wahl, wen wir als Bundestagspräsident*in und Vizepräsident*in des Bundestags wählen. #noafd«, twitterte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Britta Haßelmann.
Nur wer mehrheitsfähige Kandidaten habe, könne einen Vizepräsidenten stellen. Das gelte für alle Fraktionen gleichermaßen, auch für die AfD, schrieb der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel. Der Justiziar und Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, sagte, zwar stehe nach der Geschäftsordnung des Bundestages jeder Fraktion ein Vizepräsidenten-Posten zu. Daraus folge aber nur das Recht jeder Fraktion, einen Kandidaten für die Wahl vorzuschlagen. »Es gibt kein Recht darauf, gewählt zu werden.«
Zweiter Versuch mit Hintergedanken
Im zweiten Verfahren hatte der AfD-Politiker Fabian Jacobi durchsetzen wollen, dass auch einzelne Abgeordnete Kandidatenvorschläge machen können. Jacobi hatte 2019 mit Wissen seiner Fraktion versucht, einen zweiten Namen ins Spiel zu bringen. Der Hintergedanke: Im dritten Wahlgang ist bei zwei Bewerbern schon der gewählt, der die meisten Stimmen bekommt - träten zwei AfD-Leute gegeneinander an, würden also die eigenen Stimmen reichen.
Nach dem Urteil der Richterinnen und Richter kann der Bundestag aber intern festlegen, dass die Kandidatenvorschläge nur von den jeweiligen Fraktionen kommen dürfen. Vizegerichtspräsidentin Doris König sagte bei der Urteilsverkündung, der Bundestag dürfe Abgeordnetenrechte nur einschränken, »wenn dies zur effektiven Aufgabenerfüllung oder zum Schutz sonstiger gleichwertiger Verfassungsgüter geeignet, erforderlich und angemessen ist«. In dem Fall hier sei die Einschränkung des Vorschlagsrechts aber »verfassungsrechtlich hinreichend legitimiert«.
Jacobi sagte zum Ausgang, nicht er habe verloren, sondern der Deutsche Bundestag und auch der Staat. Das Präsidium wolle nicht, dass das Verfahren zur Wahl eines Stellvertreters aus den Reihen der AfD führe. Dafür werde die Geschäftsordnung kreativ ausgelegt.
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