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Abgehörte Funksprüche weisen auf Gräueltaten in Butscha hin

Bilder aus Butscha sorgten weltweit für Entsetzen. Nun liegen dem BND abgefangene Funksprüche russischer Militärs vor, die die Gräueltaten belegen sollen. Amnesty nennt Butscha die »Spitze des Eisbergs«.

Butscha
Völlige Zerstörung: Trümmer liegen auf dem Boden in der Nähe von Butscha. Foto: Ukrinform
Völlige Zerstörung: Trümmer liegen auf dem Boden in der Nähe von Butscha.
Foto: Ukrinform

Dem Bundesnachrichtendienst (BND) liegen abgefangene Funksprüche russischer Militärs vor, die an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübte Gräueltaten unweit der Hauptstadt Kiew belegen.

Wie der »Spiegel« zuerst berichtete, informierte der Auslandsgeheimdienst gestern Parlamentarier über den Inhalt der Funksprüche. Diese zeigen nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur, dass außerhalb von Kiew im März auch paramilitärische Einheiten im Auftrag der russischen Armee eingesetzt waren.

Der BND teilte auf Anfrage lediglich mit, er nehme zu Angelegenheiten, die etwaige nachrichtendienstliche Erkenntnisse oder Tätigkeiten betreffen, grundsätzlich nicht öffentlich Stellung. Damit sei keine Aussage getroffen, ob der Sachverhalt zutreffend sei oder nicht. Zu entsprechenden Themen berichte er insbesondere der Bundesregierung und den zuständigen, geheim tagenden Gremien des Bundestages. Gestern tagte das für die Kontrolle der Geheimdienste verantwortliche parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages.

Regierung: Russische Ausführungen nicht haltbar

Regierungssprecher Steffen Hebestreit hatte zu Berichten über Gräueltaten in dem Ort Butscha gesagt, eine Auswertung von nicht-kommerziellen Satellitenbildern zeige, dass Opfer mindestens seit dem 10. März auf einer Straße gelegen hätten. »Glaubhafte Hinweise belegen, dass ab dem 7. März bis einschließlich 30. März russische Streit- und Sicherheitskräfte in diesem Gebiet eingesetzt waren. Sie waren auch mit der Befragung von Gefangenen befasst, die anschließend exekutiert worden sind. Das ist sind die Erkenntnisse, die wir haben«, sagte Hebestreit. »Die von russischer Seite getätigten Ausführungen, es handele sich um gestellte Szenen und man sei nicht verantwortlich für die Ermordungen, sind aus unserer Sicht damit nicht haltbar.«

Hinweise auf neue Kriegsverbrechen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete unter Verweis auf ukrainische Augenzeugen von neuen Hinweisen auf russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Russische Truppen hätten ihren Informationen zufolge wiederholt unbewaffnete Menschen in deren Häusern oder auf offener Straße erschossen, teilte die Organisation am Donnerstag mit.

In einem Fall sei eine Frau mehrfach vergewaltigt worden, nachdem ihr Mann getötet worden sei. »Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität«, sagte Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland. »Alle Belege sprechen dafür, dass wir es hier mit Kriegsverbrechen zu tun haben.«

Ein Amnesty-Team sprach den Angaben zufolge in den vergangenen Wochen mit mehr als 20 Menschen aus Orten nahe Kiew, die russische Gewalttaten miterlebt oder unmittelbar Kenntnis von den Gewalttaten erhalten hätten. Man habe alle Fälle »quergecheckt« und sich die Aussagen von weiteren Quellen bestätigen lassen, sagte ein Amnesty-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur.

In einem Fall habe etwa eine 46 Jahre alte Frau aus Bohdaniwka nordöstlich von Kiew berichtet, dass russische Soldaten in ihr Haus eingedrungen seien und sie und ihren Mann in den Heizungsraum gedrängt hätten. Dann hätten sie ihren Mann nach Zigaretten gefragt. Als der verneint habe, hätten sie ihm zunächst in den rechten Arm, dann in den Kopf geschossen. Die Frau gab an, dass ihr Mann noch sechs Stunden lang geatmet hätte, bis er schließlich in der Nacht gestorben sei. Ein Nachbar hat laut Amnesty gesehen, wie die russischen Soldaten in das Haus eingebrochen seien. Auch habe der Nachbar angegeben, den zusammengebrochenen Körper des Mannes im Heizungsraum gesehen zu haben. Die 46-jährige Frau sei mit ihrer 10-jährigen Tochter noch am selben Tag geflohen. Die 81-jährige Schwiegermutter sei zurückgeblieben.

Bürgermeister: Die meisten Zivilisten wurden erschossen

In Butscha verdichteten sich nach Angaben der örtlichen Behörden nach wie vor die Hinweise auf russische Kriegsverbrechen. Etwa 90 Prozent der getöteten Zivilisten wiesen Schusswunden auf, sagt Bürgermeister Anatolij Fedoruk der Deutschen Welle. Mit Stand Mittwochabend seien in Butscha 320 Leichen gefunden worden. Sie würden von Spezialisten untersucht. »Aber die Zahl der entdeckten Leichen steigt mit jedem Tag«, sagte Fedoruk. »Weil sie auf Privatgrundstücken, in Parks und auf Plätzen gefunden werden, wo es möglich war, die Leichen zu begraben, als es keinen Beschuss gab.«

Er selbst habe mehrere Fälle miterlebt, in denen russische Soldaten ukrainische Zivilisten getötet hätten, sagte Fedoruk. An einem Checkpoint hätten Russen das Feuer auf mehrere Autos eröffnet. In einem Wagen seien eine schwangere Frau und zwei Kinder getötet worden. Nun arbeiteten ukrainische und internationale Behörden in Butscha. »Das Wichtigste ist, die Verbrecher, die das getan haben, vor Gericht zu stellen«, sagte Fedoruk. Viele Angaben sind bislang noch nicht unabhängig überprüft.

Die Verwüstungen in der Stadt rund zwölf Kilometer nordwestlich des Kiewer Stadtrands seien enorm. »112 Privathäuser wurden bis auf die Grundmauern zerstört und können nicht wiederaufgebaut werden«, sagte Fedoruk.

© dpa-infocom, dpa:220407-99-831975/5