Nicole Dominicus fischt einen braunen Umschlag aus einer Unmenge von braunen Umschlägen, die in einem der unzähligen Schränke des Arolsen Archives lagern. »Die individuellen Unterlagen sind am beeindruckendsten«, sagt sie. Die Referatsleiterin, die zuständig ist für die Bestände der Arolsen Archives im nordhessischen Bad Arolsen und deren Pflege, zieht eine »Häftlings-Personal-Karte« heraus. Auf einem angeheftete kleinen Schwarz-Weiß-Foto ist ein Junge zu sehen - die Haare kurz geschoren, in Häftlingskleidung mit Häftlingsnummer. Er lächelt.
Johann Herak, geboren am 23. Juli 1927 in Tschechien, 1,40 Meter groß, ist der Karteikarte zu entnehmen. Demnach hatte er als 16-Jähriger zunächst Zwangsarbeit im KZ Auschwitz leisten müssen, bevor er am 16. April 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt wurde. »Grund: Arbeitsscheu Tscheche - Zigeuner« ist auf dem Dokument vermerkt. »Den Unterlagen ist weiter zu entnehmen, dass er nach seiner Befreiung in Mittelbau-Dora nach Illfeld gebracht wurde, dort starb und am 21. April 1945 begraben wurde«, erläutert die Pressesprecherin der Arolsen Archives, Anke Münster.
Dokumente über Holocaust-Opfer
Die 215 Mitarbeiter zählende Einrichtung gilt als weltweit umfassendste Sammlung zu den Opfern der NS-Verbrechen. Gegründet wurde sie 1948 unter dem Namen Internationaler Suchdienst (englisch: International Tracing Service; ITS). 2019 wurde sie in Arolsen Archives umbenannt. Mehr als 30 Millionen Dokumente über Holocaust-Opfer, KZ-Häftlinge, NS-Zwangsarbeiter und Überlebende befinden sich in dem Archiv. Sie zählen ebenso zum Unesco-Weltdokumentenerbe wie die sogenannte Zentrale Namenkartei (ZNK) mit rund 50 Millionen Karteikarten, die im Laufe der Zeit angelegt wurden und Hinweise auf 17,5 Millionen Menschen liefern.
Anhand der Kartei konnte in der vordigitalen Zeit geprüft werden, ob und welche Dokumente zu einzelnen Personen im Archiv aufbewahrt werden. Ende der 1990er-Jahre wurde die ZNK digitalisiert. Mehr als drei Millionen Menschen weltweit haben sich seit der Gründung vor 75 Jahren mit Fragen an die Arolsen Archives gewandt. Ein Blick in das Archiv, das bis zum geplanten Neubau in einer Industriehalle untergebracht ist, lässt die schier unfassbare Dimension der Verbrechen des NS-Regimes zumindest erahnen. Akten, Karteikarten und Listen füllen laut Münster 22.000 laufende Meter Regale und Schränke. Die Akribie der Täter bei der Dokumentation ihrer Opfer erschüttert.
Kernaufgabe und neue Ausrichtung
Jahrzehntelange Kernaufgabe der Institution war es, Schicksale zu klären und Vermisste zu suchen. »Wir waren früher kein Archiv, sondern eine Auskunftsstelle«, sagt Münster. Der Öffentlichkeit blieb die Sammlung lange Zeit verschlossen. »Von Ende der 1970er- bis in die 2000er-Jahre war das Archiv des damaligen Internationalen Suchdienstes für die historische Forschung nicht zugänglich«, berichtet Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Das habe sich in den vergangenen zehn bis 15 Jahren komplett geändert. »Mittlerweile sind die meisten Unterlagen aus Arolsen sogar online zugänglich - eine Recherchemöglichkeit, die wir in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora nahezu täglich nutzen.« Allein zum KZ Buchenwald liegen Wagner zufolge in Arolsen über eine Million Dokumente. »Über die Geschichte der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora zu forschen, ist ohne Arolsen nicht denkbar.« Bei Publikations- und Ausstellungsprojekten nutze die Stiftung die Bestände aus Arolsen seit Jahren in großem Umfang.
Heute verstehen die Arolsen Archives, die aus dem Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien finanziert werden, es als ihre Aufgabe, die Dokumente einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. »Wir bieten gerne Zugang zu unseren Dokumenten. Wer möchte, kann herkommen und sie einsehen oder unser digitales Archiv nutzen«, betont Münster.
Vorwürfe
Für negative Schlagzeilen sorgten jüngst Vorwürfe gegen die Führung der Arolsen Archives. Medienberichten zufolge hatten 25 ehemalige und aktuelle Mitarbeitende der Direktion Mobbing, Machtmissbrauch und Sexismus vorgeworfen. In einem Brief hatten sie sich an Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und den Internationalen Ausschuss (IA) gewandt. Das Aufsichtsgremium der Arolsen Archives mit Vertretern aus 16 Nationen gab daraufhin eine Untersuchung durch eine unabhängige Anwaltskanzlei in Auftrag. Sie sollte zunächst die gesamte siebenjährige Amtszeit der beschuldigten Direktion umfassen. Am Dienstag teilte der IA allerdings mit, die Untersuchung auf einen Zeitraum von zwei Jahren zu beschränken.
Inzwischen gibt es laut Medienberichten einen weiteren Brief von Mitarbeitern an den IA und Roth. Zu Details wollte sich ein Sprecher Roths allerdings nicht äußern: »Die Verfasser des Briefes haben die Staatsministerin um Vertraulichkeit gebeten. Entsprechend wird sie keine Inhalte des Briefes öffentlich kommentieren.«
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