Wenn viele Menschen in der Öffentlichkeit demonstrieren, geht der Überblick schnell verloren. Geht ihre Zahl auch noch in die Zehntausende, kommt Durchzählen nicht in Frage. Dann werden die Teilnehmerzahlen geschätzt. In der Regel unterscheiden sich die Angaben von Veranstaltern und Polizei - und das teils eklatant.
Warum die Angaben auseinandergehen
Menschenmengen zu schätzen ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. In der Forschung nehme man in der Regel das Mittel zwischen den Werten der Polizei und der Veranstalter an, sagt Protestforscher Sebastian Haunss von der Universität Bremen.
Zuweilen klaffen die Zahlen besonders weit auseinander. So sprachen die Veranstalter der Proteste gegen Rechtsextremismus und die AfD in Berlin vom vergangenen Sonntag von 350.000 Demonstrierenden, die Behörden nannten bis zu 100.000 Teilnehmer.
»Die Polizei gibt nur eine grobe Schätzung«, erklärt die Berliner Polizeisprecherin Anja Dierschke. Die Behörde erhebe diese Zahlen, damit sie gegebenenfalls Einsatzkräfte umstrukturieren oder nachordern und Erfahrung für künftige Kundgebungen sammeln könne. »Unsere Aufgabe ist nicht, eine Demonstration über die geschätzten Zahlen als erfolgreich oder erfolglos zu bewerten«, so Dierschke.
Nach Erkenntnissen von Protestforscher Haunss sind die Zahlen der Organisatoren systematisch zu hoch, die der Polizei systematisch zu niedrig. »Häufig sind die Differenzen besonders groß bei Demonstrationen, die mehr Zulauf haben als zunächst erwartet«, sagt er. Die Veranstalter wollten besonders viele Menschen mobilisiert haben. Auch die Polizei sei bei Demonstrationen nicht immer neutral und habe zuweilen womöglich politische Interessen, Proteste eher zu klein darzustellen. Sie plane eine bestimmte Anzahl an Beamten für die Proteste ein und wolle am Ende nicht dastehen, als hätte sie die Situation unterschätzt.
Die Berliner Polizei lässt das Argument für sich nicht gelten. »Wir berechnen im Vorfeld unseren Kräfteeinsatz aus der Erfahrung der Vergangenheit und aus den Veranstalterangaben«, sagt die Sprecherin. Verlaufe eine Demonstration friedlich und sicher für alle, spiele am Ende die Zahl der Einsatzkräfte eine untergeordnete Rolle. Am vergangenen Sonntag waren es in der Hauptstadt rund 300 Beamte.
Wie gezählt wird
Haunss zufolge ist es einfacher, die Größe von Demonstrationszügen zu ermitteln. Vom Streckenrand aus werden die vorbeiziehenden Reihen gezählt und mit der durchschnittlichen Anzahl von Menschen, die sich pro Reihe vorwärtsbewegen, multipliziert. Der Wissenschaftler gibt den Schätzfehler bei dieser Methode mit etwa 10 bis 15 Prozent an.
Bei Kundgebungen sei eine Beurteilung deutlich schwieriger. Sie sind nur scheinbar statisch, es gibt ein immerwährendes Kommen und Gehen. »Die Fluktuation der Menschen ist methodisch nicht zu erfassen«, sagt Haunss. Je länger die Proteste andauerten, umso unsicherer seien die Angaben. Sie zeigten nur den Stand zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Erst wird ermittelt, wie viele Menschen sich auf einem Quadratmeter aufhalten - und dann auf die Gesamtfläche der Proteste hochgerechnet. Drei Menschen pro Quadratmeter sei in etwa die Dichte auf einem gut besuchten Konzert, so Haunss. Vor einer Bühne könne es etwa gedrängter zugehen als weiter hinten.
Der Polizei ist durchaus bewusst, dass diese auch von ihr angewandte Methode ihre Tücken hat, und dass die ermittelte Zahl nur den Zeitpunkt der Erhebung abbildet - nicht die gesamte Demonstration. In der Regel schätzen Beamte vom Rand der Kundgebung die Menschen pro Quadratmeter. Zuweilen kommt - wie am vergangenen Sonntag - ein Helikopter zum Einsatz, um sich ein Bild von oben zu machen. Drohnen und Künstliche Intelligenz werden in Berlin aktuell nicht eingesetzt.
Durch viele Kundgebungen in der Hauptstadt kann die Polizei allerdings auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Die Beamten wissen in etwa, wie viele Menschen auf den Platz um die Siegessäule passen oder auf die Wiese vor dem Reichstag.
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