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Wissenschaftler kritisieren verengten Blick auf Natur

In politischen Entscheidungen gehe es oft um den schnellen Gewinn, kritisiert der Weltbiodiversitätsrat IPBES in einem neuen Bericht. Was Natur aber sonst noch bedeutet, falle oft unter den Tisch.

Abgeholzter Regenwald
Abholzung des Regenwalds im Amazonasgebiet in Brasilien. Jeden Tag werden große Flächen Regenwald zerstört. Foto: Marcelo Sayao
Abholzung des Regenwalds im Amazonasgebiet in Brasilien. Jeden Tag werden große Flächen Regenwald zerstört.
Foto: Marcelo Sayao

Ein verengter Blick auf die Natur und ökonomisches Gewinnstreben stehen einem nachhaltigen Artenschutz nach Ansicht von Wissenschaftlern oft im Weg.

Die Art, wie Natur in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bewertet werde, sei ein Schlüsselfaktor der globalen Biodiversitätskrise - zugleich aber auch eine Chance, sie anzupacken, erklärte der Weltbiodiversitätsrat IPBES am Montag in Bonn zu einem Expertenbericht. Ein vorherrschender Blick auf kurzzeitige Gewinne und wirtschaftliches Wachstum schließe die Berücksichtigung der vielfältigen Werte der Natur häufig aus.

Das sagen die Umweltverbände

Umweltverbände äußerten sich zustimmend. Der Naturschutzbund (Nabu) erklärte, das Bruttoinlandsprodukt steige oft, wenn Natur vernichtet werde, etwa um eine Straße oder einen Damm zu bauen. »Kurzfristig profitieren wir von günstigen Preisen für ein T-Shirt oder einen Liter Milch. Doch langfristig gefährden wir damit unseren Wohlstand«, sagte Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger. Dieser hänge auch von intakten Ökosystemen ab.

Die Umweltstiftung WWF betonte: »Für die einen ist die Natur nur Lieferantin von Nahrung und Wasser, für die andern ist sie die schützenswerte Mutter Erde«. Politische Entscheidungen sollten in Zukunft die Vielfalt zwischen ethischen, ökonomischen und kulturellen Leistungen der Natur besser widerspiegeln. »Wir müssen dringend weg vom kurzfristigen und gewinnorientierten Denken, das Wachstum über alles andere stellt«, erklärte der WWF.

Indigene Gruppen aus Südamerika begrüßten die Beschlüsse. »Wir feiern insbesondere die Empfehlung, unsere territorialen Rechte und unser traditionelles Wissen anzuerkennen, was für einen wirksamen Schutz des Amazonasgebiets unerlässlich ist«, erklärte José Gregorio Diaz Mirabal, Koordinator des Dachverbands der indigenen Gruppen im Amazonasbecken (Coica).

Den Bericht (»Values Assessment«) hatte ein Treffen mit mehr als 900 Vertretern der 139 IPBES-Mitgliedsstaaten am Samstag in Bonn gebilligt. 82 Experten aus 47 Ländern arbeiteten an dem Papier mit, das sich auf mehr als 13.000 wissenschaftliche Referenzen stützt. Laut einem schon 2019 veröffentlichten Papier dieses Gremiums sind bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Das Wirtschaftswachstum war als ein wichtiger Faktor genannt worden.

Auch Klimaregulierung hat mit Natur zu tun

Laut dem neuen Report haben wirtschaftliche und politische Entscheidungen bestimmte Werte der Natur bevorzugt, die zum Beispiel der marktwirtschaftlich orientierten Nahrungsmittelproduktion nützlich sind. Damit werde aber nicht angemessen berücksichtigt, wie Eingriffe in die Natur sich auf die Lebensqualität von Menschen insgesamt auswirken. Außerdem werde übersehen, dass etwa Klimaregulierung und kulturelle Identität ebenfalls mit Natur zu tun haben.

Es gebe keinen Mangel an Ansätzen, um die Werte der Natur sichtbar zu machen. Woran es fehle, seien aber Methoden, mit der ungleichen Machtverteilung zwischen Gruppen umzugehen und die verschiedenen Werte der Natur in politische Entscheidungen einzubeziehen.

Mitautorin Patricia Balvanera aus Mexiko erklärte, angesichts der globalen Biodiversitätskrise sei eine Verlagerung von Entscheidungen hin zu den vielfältigen Werten der Natur wichtig. »Dies bedeutet auch eine Neudefinition von «Entwicklung» und «guter Lebensqualität»«, sagte Balvanera.

In Bonn beschlossen wurde ein neuer IPBES-Bericht zum Thema »Wirtschaft und Biodiversität«, der 2025 fertiggestellt sein soll. Im kommenden Jahr soll eine Studie über »Invasive gebietsfremde Arten« vorgelegt werden.

© dpa-infocom, dpa:220711-99-983175/4