BOCKENEM/HARZ. Hebel in die eine Richtung, Gas geben - das Auto fährt nach vorn. Hebel in die andere Richtung - es setzt zurück.
Was heute technisch einfach anmutet, war vor rund 100 Jahren eine geniale Lösung für ein kleines Elektroauto mit einer Reichweite von 70 bis 100 Kilometern, den Stadtlieferwagen Hawa EM3 von 1922. Eine solche Strecke vor so langer Zeit, mit altertümlichen, schweren Blei-Akkus? Tatsächlich keine Seltenheit. Und schon damals war Reichweite das Zauberwort. Etwas, woran die frühen E-Autos letztlich scheiterten und was auch heute Sorgen bereitet.
Für den Hawa genügte die geringe Reichweite allemal. Nur noch zwei Exemplare des betagten E-Oldtimers existieren, sie wurden nur zwischen 1921 und 1923 gebaut: Einer steht heute im Historischen Museum in Hannover, der andere gehört dem Stromanbieter BS Energy in Braunschweig - und wird in Bockenem-Störy bei Hildesheim von Schraubern der Hanomag-Interessengemeinschaft auf Vordermann gebracht. Vorher diente er jahrelang als Theaterkulisse. Doch manche Autos schafften schon damals deutlich über 100 Kilometer, bei Testfahrten war auch noch wesentlich mehr drin.
Zukunft oder Vergangenheit? Man stelle sich nur einmal vor: Zahllose Autos auf den Straßen, sie beschleunigen, statt dröhnender Motoren hört man nichts. Elektroautos machen fast 40 Prozent des automobilen Verkehrs allein in New York aus, keine stinkenden Abgase, keine Dieselfahrverbote. Anderswo ist es ähnlich, die Elektroautos haben sich offensichtlich durchgesetzt - trotz aller Hindernisse etwa beim vergleichsweise mühsamen Laden. Doch eine Zukunftsvision ist das nicht. So war es vor über 100 Jahren. Bis die Verbrenner aufholten.
In Störy hat der kleine E-Hawa jedenfalls Seltenheitswert. Der Verein ist spezialisiert auf Fahrzeuge und Maschinen von Hanomag - vom Auto bis zum Radlader. Seit 20 Jahren haben die Schrauber ihre Halle, und der Boden ist gewissermaßen historisch: 38.000 Steine aus dem früheren Hanomag-Werk in Hannover wurden verlegt.
Doch Hawa - ebenfalls mit Sitz in Hannover und aus dem Waggonbau kommend - ist interessant, wie Vereinsvorstand Horst-Dieter Görg meint. Schon 1931 verschwand die Firma vom Markt. Seinen ersten Hawa kaufte Görg von einem Sammler aus Australien. Heute steht das Zweisitzer-Cabrio im Museum.
Der kleine Transporter von BS Energy dagegen, ein 40-Volt-Wagen mit 1,6 PS und Kettenantrieb, steht bei den Schraubern. Unter der noch fehlenden Fronthaube ist es eng, darunter stecken 20 Batteriezellen für den Fahrbetrieb und eine 6-Volt-Batterie für die Beleuchtung.
Der Wagen habe kein Getriebe, aber drei Gänge, erklärt Görg: Über einen Walzenschalter bekommt der Motor erst die halbe, dann drei Viertel und schließlich die volle Energie. Bei Tempo 30 ist Schluss. Das Gussgehäuse für den Schalter musste ersetzt werden, wie der 60 Jahre alte Volks- und Betriebswirt erzählt. Die Ladezeit mit einem modernen Ladegerät sei benutzerfreundlich, nur zwei Stunden, sagt Elektriker Reinhard Koch. Bald kommt die erste Ausfahrt - anders als Verbrenner nicht laut brummend, sondern leise summend.
Vor 100 Jahren war die automobile Welt eben noch eine andere, E-Fahrzeuge wurden als überlegen angesehen, wie Branchenexperte Stefan Bratzel, Professor am Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach, erklärt. Erst die Möglichkeit, auf längeren Strecken unterwegs zu sein, brachte den Ausschlag für die Verbrenner - und die Bequemlichkeit: Denn mit dem elektrischen Anlasser für Autos mit Verbrennungsmotor entfiel das lästige Kurbeln. Entscheidend damals wie heute seien Reichweite, Ladeinfrastruktur und Preise.
Für Alexander Kloss vom Automuseum PS Speicher im niedersächsischen Einbeck war die Blütezeit der frühen E-Autos etwa von 1915 bis 1920. In den USA habe es beispielsweise die Marke Detroit Electric gegeben - und mit einem Wagen dieser Marke von 1915 sei ein Team des PS Speichers im vergangenen Jahr von Einbeck nach Hildesheim und zurück gefahren. Das entspreche einer Strecke von etwa 100 Kilometern. »Heute schafft man das mit dem E-Up so eben. An den Reichweiten hat sich nicht so viel geändert«, sagt Kloss. Doch das erste deutsche E-Auto ist noch älter - das sogenannte Flocken-Auto von 1888. Die Probleme damals ähnelten den heutigen - wenige Lademöglichkeiten außerhalb der Städte.
So sieht Görg auch in der E-Mobilität »nicht das Allheilmittel. Das werde wieder abebben«, ist sich der 60-Jährige sicher. Stattdessen setzt er auf die Brennstoffzelle und auf Wasserstoff. Oder wird es ganz neue Konzepte geben? Schon 1906 knackte ein Dampfwagen die Marke von 200 Stundenkilometern, wie Görg erinnert: »Es ist völlig offen, was sich durchsetzt.« (dpa)