Offenbach (dpa) - Demenz ist eine reine Alterskrankheit. Das ist die Vorstellung, die viele Menschen nach wie vor haben. Und tatsächlich sind vor allem Seniorinnen und Senioren betroffen. Doch auch jüngere Menschen können an Demenz oder Alzheimer erkranken.
»Wir gehen davon aus, dass etwa 25.000 Menschen unter 65 Jahren mit einer Demenz leben«, sagte Susanna Saxl-Reisen von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. »Das Thema ist in der breiten Gesellschaft noch nicht angekommen.« Ein Problem sei, dass es kaum spezielle Angebote für Menschen in dieser Altersgruppe gibt.
Auch im »StattHaus«, einem Betreuungs- und Beratungszentrum für Demenzkranke im hessischen Offenbach, melden sich zunehmend jüngere Betroffene und deren Angehörige. »Das sind zwar nach wie vor Einzelfälle«, betont Mitarbeiterin Tanja Dubas. Die Krankheit breche jedoch in einer Phase aus, »in der die Menschen noch mitten im Leben stehen«. Für die Angehörigen sei das besonders schwer. Ein Einkommen falle weg, ein Pflegefall komme hinzu und die Kinder seien womöglich noch nicht aus dem Haus.
Schicksale, die oft nicht gesehen werden
Das kann auch ihre Chefin Maren Ewald bestätigen, die seit vier Jahren das »StattHaus« leitet. Denn sie ist selbst Tochter eines Jungerkrankten: »Ich kann die Wut der Angehörigen sehr gut nachvollziehen.« Neulich in der Beratung habe eine Frau gefragt, was sie nur machen solle, die Wohnung sei nicht abgezahlt und sie habe ihren Job verloren, weil sie so stark in die Pflege eingebunden sei. »Das sind alles Schicksale, die oft nicht gesehen werden.«
Ewalds Vater, ein Richter, hatte mit 57 seine Diagnose bekommen. »Ich habe erlebt, wie er zunehmend abgebaut hat und wie meine Mutter komplett überfordert war. Dann zum Ende die Stuhl- und Harn-Inkontinenz und die permanente Nachtunruhe, das war hart«, sagt die Leiterin. Sie rät, nicht zu lange mit einer stationären Betreuung zu warten. »Viele Familien gehen kaputt durch die Überforderung.« Und gerade Menschen mit Demenz hätten ein recht gutes Gespür für Stimmungen.
Bis zu welchem Alter spricht man von Junger Demenz? Das seien Betroffene unter 65 Jahren, es könnten aber auch bei 40-Jährigen Erkrankungen auftreten, oder noch früher, sagt Saxl-Reisen von der Alzheimer Gesellschaft. »Ich weiß mindestens von einer jungen Frau, bei der es mit Anfang 20 angefangen hat oder von einem Mann, bei dem es mit Mitte 20 losging. Das ist aber extrem selten.«
Versuch der Integration
Zum Offenbacher StattHaus gehört eine WG für ältere Demenzkranke, sowie eine öffentliche Cafeteria mit Garten. Zur Tagesbetreuung kommen derzeit zwei bis drei Jungbetroffene. »Wir versuchen sie hier in passende Gruppen mit älteren Betroffenen zu integrieren. Ich glaube, dass das aufgrund der Betreuungsweise zumindest bei uns gut funktioniert«, sagt Dubas. Da ist etwa ein gebürtiger Peruaner aus Frankfurt, der mit Anfang 60 erkrankt ist. Früher habe er mehrere Sprachen gesprochen und jetzt finde er nur noch einige spanische Begriffe, erklärt seine Ehefrau.
Oder da ist ein Offenbacher, der eigenständig zweimal in der Woche mit dem Bus kommt. Ihm gefalle hier die herzliche und warme Atmosphäre, sagt er. Mit hessischem Dialekt berichtet der zweifache Vater von seinem früheren Beruf als Landschaftsgärtner und seiner einstigen Leidenschaft, dem Langstreckenlauf. Vor einigen Jahren habe sich die Krankheit dann bemerkbar gemacht, sagt der heute 61-Jährige. Er habe Orientierungsprobleme gehabt und Dinge vergessen. Sein Chef habe irgendwann festgestellt, dass etwas nicht stimmt. »Ich habe Sachen angefangen, dann vergessen und andere Sachen angefangen.« Die Ärzte hätten seine Beschwerden zunächst aber nicht ernstgenommen.
»Im Schnitt dauert es zweieinhalb bis drei Jahren, bis die Diagnose feststeht«, sagt Expertin Saxl-Reisen. Viele Mediziner gingen zunächst von Burn-Out oder einer Depression aus. »Die ersten drei Jahre sind für die Betroffenen schwierig, weil sie merken, dass sie sich verlieren. Da ist eine ganz große Verzweiflung«, sagt Ewald. Für die Patienten werde es in der mittleren Phase häufig besser, dann erinnerten sie sich nicht mehr.
Heile Welt auf den Kopf gestellt
Wie es ist, mit einem dementen Vater zu leben, weiß auch Oskar Seyfert, der eigentlich anders heißt. Der Hamburger hat soeben - im Alter von gerade mal 15 Jahren - das Büchlein »Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben« geschrieben. Darin erzählt er, wie die Diagnose seine heile Welt auf den Kopf stellt: »Eines Tages aber passierte etwas, was unser Leben extrem erschweren und unsere erste Prüfung im Leben sein sollte. Mein Vater wurde dement... Dabei war er erst 54 Jahre alt.«
Seyfert berichtet eindrücklich von dem Prozess der Erkrankung, der veränderten Beziehung zu seinem Vater, der als Arzt arbeitete, und von verpassten Gesprächen. Doch bei all dem Leid findet er sogar positive Aspekte, wie das noch stärkere Verhältnis zwischen seiner Mutter, ihm und seinen Geschwistern. »Wir haben gelernt, durch unbedingten Zusammenhalt die Lücke zu füllen, die die Krankheit meines Vaters verursacht hat.« Man müsse zueinanderhalten, »denn wenn wir das als Familie nicht tun würden, hätte die Krankheit gewonnen«.
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