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Das EEG entschlüsselt seit 100 Jahren unser Gehirn

100 Jahre nach seiner Entdeckung ist das EEG nicht nur täglicher Begleiter in der Medizin. Auch Elon Musk nutzt die Erfindung für seine Gehirnimplantate. Andere versuchen sich damit am Gedankenlesen.

100 Jahre EEG
Heute gibt es vielfältige Einsätze für ein EEG. Foto: Jacob Schröter/DPA
Heute gibt es vielfältige Einsätze für ein EEG.
Foto: Jacob Schröter/DPA

Ein Jenaer Psychiater zeichnete vor 100 Jahren zum ersten Mal die elektrische Aktivität des menschlichen Gehirns auf und schuf damit auch die Grundlage für heutige Hirnimplantate. Dem Erfinder Hans Berger gelang am 6. Juli 1924 eine Elektroenzephalografie (EEG). Das Verfahren hat nicht nur die Erkenntnisse über das Gehirn revolutioniert, sondern auch vielfältige Anwendungen im klinischen Alltag ermöglicht, etwa bei der Diagnose von Epilepsie und ADHS. Derzeit schreitet die Entwicklung dank Künstlicher Intelligenz (KI) rasant voran. Können wir sogar bald Gedanken lesen? 

Elektroden, Kabel, viele Kurven: Wie alles funktioniert 

Für den Laien sieht ein EEG-Aufbau etwas befremdlich aus: An einen Kopf werden viele kleine Metallplättchen - sogenannte Elektroden - geklebt und mit einem Computer verkabelt. Sie sollen die elektrische Aktivität des Gehirns aufzeichnen. Auf einem Bildschirm erscheinen Kurven in bestimmten Mustern, das Elektroenzephalogramm - ebenfalls EEG genannt. 

Die Muster lassen sich zum einen aktiv beeinflussen, etwa durch das Schließen der Augen. Zum anderen können Fachleute je nach Verlauf der Linien auch Krankheiten wie Epilepsie erkennen. »Man braucht viel Expertise, um Böses von Sachen zu unterscheiden, die nur böse aussehen, aber nicht böse sind«, erklärt der Leiter des Epilepsie-Zentrums am Klinikum der Universität München, Jan Rémi. 

Um etwa Epilepsie zu diagnostizieren, könne das EEG nach einem Anfall angelegt werden. Zeigten die Kurven ein bestimmtes Schema, habe der Patient Epilepsie. Schlage medikamentöse Behandlung nicht an, könne man mit einem EEG auch die Gehirnregionen bestimmen, von denen die Epilepsie ausgehe - und diese im Zweifel entfernen. 

100 Jahre EEG
Gedankenlesen mit einem EEG ist laut Experten bislang nur begrenzt möglich. Foto: Jacob Schröter/DPA
Gedankenlesen mit einem EEG ist laut Experten bislang nur begrenzt möglich.
Foto: Jacob Schröter/DPA

Können wir bald Gedanken lesen? 

Für die endgültige Diagnose werde das menschliche Auge immer wichtig bleiben, ist Rémi überzeugt. Aber mithilfe Künstlicher Intelligenz ließen sich künftig etwa charakteristische Linien vorfiltern, die dann noch überprüft werden müssten. EEG-Signale mit ihren Hunderten und Tausenden von Wellen böten zig Analysemöglichkeiten, die künftig mithilfe von KI besser ausgewertet werden könnten. »Vom Gedankenlesen sind wir noch weit entfernt. Aber ich glaube schon, dass man in den nächsten Jahren erkennen kann, ob jemand lügt oder nicht.« 

Für den EEG-Forscher Gyula Kovács von der Universität Jena ist der Einzug der KI »die wichtigste Entwicklung der letzten paar Jahre für die Analyse von EEG-Daten«. Darüber ließen sich bestimmte Teile des Bewusstseins sichtbar machen. »Das war früher absolut nicht möglich.« Zum Beispiel lasse sich nachverfolgen, ob jemand eine Serie gesehen habe oder nicht, oder ob jemand einen Menschen wiedererkenne. Da müsse man auch die ethische Frage stellen, wie weit man die Technik überhaupt anwenden wolle. 

Forscher wollen Gedankenkraft nutzbar machen

Auch die Technologie der Gehirnimplantate-Firma Neuralink des US-Milliardärs Elon Musk baut auf der Logik der Elektroenzephalografie auf: Hier sollen 1024 Elektroden die Signale des Gehirns so auffangen, dass Menschen nur durch ihre Vorstellungskraft etwa einen Computer-Cursor bedienen können. Im Januar bekam der erste Patient einen solches Hirnimplantat. Neuralink räumte zuletzt Probleme ein - so hätten sich einige Elektroden wieder gelöst. 

In der Vergangenheit hatte es auch schon US-Studien gegeben, in denen Menschen etwa eine Handprothese mit Kraft ihrer Gedanken bewegen konnten, wie der Neurowissenschaftler Stefan Schweinberger von der Universität Jena sagt. Diese Einzelstudien seien aber sehr aufwendig und invasiv. »Das ist sicher kein Verfahren, das in der Breite jetzt oder in absehbarer Zukunft verfügbar sein wird.«

Berger: Erfinder, Zweifler und strittige Figur

Als der Psychiater Hans Berger am 6. Juli 1924 - einem Sonntag - in seinem Labor in Jena zum ersten Mal die elektrische Aktivität eines menschlichen Gehirns aufzeichnete, war all das noch Zukunftsmusik. Schon knapp 50 Jahre zuvor waren solche Aufzeichnungen bei Tieren gelungen. Der als pedantisch und kritikscheu geltende Berger haderte dennoch lange mit seinen ersten Befunden und ging erst 1929 damit an die Öffentlichkeit. Ein Jahr zuvor hatte er noch resigniert in seinem Tagebuch notiert: »Ich habe mehrere Jahre an dem vermeintlichen EEG gearbeitet. Was nun? EEG aufgeben!«

Mitte der 1930er-Jahre fanden seine Erkenntnisse aber Anerkennung und namhafte Befürworter wie den britischen Neurophysiologen und Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian. Berger widmete sich den verschiedenen Anwendungsfällen seiner Entdeckung, wie etwa EEG-Veränderungen im Schlaf, bei Hirntumoren oder auch bei Epilepsie. 

In der Zeit des Nationalsozialismus war Berger SS-Fördermitglied und wirkte an Zwangssterilisationen mit. Die nach ihm benannte Klinik für Neurologie in Jena legte 2022 den Namen Hans-Berger-Klinik ab. 

EEG bei der Behandlung von ADHS und anderen Diagnosen 

Was bleibt, ist ein Goldstandard in einigen klinischen Bereichen: Neben der Diagnose werde das EEG beispielsweise auch verwendet, um die Tiefe einer Narkose zu erkennen, erklärt Mediziner Rémi. »Das hilft uns, Narkosemittel zu sparen.« Auch die Schwere von Hirnschäden lasse sich beurteilen, bis hin zur Feststellung des Hirntods. Im Schlaflabor werde das EEG verwendet, um Schlafphasen voneinander zu unterscheiden.

Bergers Erfindung bietet darüber hinaus ein weites Forschungsfeld, das auch an seiner alten Wirkungsstätte in Jena vorangetrieben wird. Dort möchten Forscher mittels EEG herausfinden, ob Autisten über sogenanntes Neurofeedback bestimmte Gehirnaktivitäten unterdrücken können. 

Die Patienten können dabei ihre Hirnaktivität quasi auf einem Bildschirm sehen und trainieren, sie willentlich zu verändern. Konkret geht es um eine spezifische Hirnaktivität, die üblicherweise in bestimmten Situationen heruntergeregelt ist, bei Autisten aber nicht. Bei den Patienten werden Elektroden auf der Kopfhaut platziert und sie bekommen einen Film zu sehen, der nur dann störungsfrei weiterläuft, wenn diese Hirnaktivität unter einer bestimmten Schwelle bleibt. 

Bei der Behandlung von ADHS-Patienten wird die Technik schon länger verwendet, auch bei Schlaganfall-, Tinnitus- und Long-Covid-Patienten gibt es erste Versuche.

 

 

 

 

 

 

© dpa-infocom, dpa:240705-930-164499/1