BERLIN. Bevorzugtes Impfen von Pflegeheimbewohnern, chronisch Kranken sowie Pflegepersonal und Ärzten gegen Covid-19 - damit ist es in Deutschland ein Stück weit vorbei. Den Impfstoff Vaxzevria des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca soll nun jeder erwachsene Impfwillige in Absprache mit dem Arzt bekommen können.
Wer befürchtete Abstriche bei der Wirksamkeit nicht scheut, kann die zwei nötigen Spritzen in einem Abstand von nur vier Wochen erhalten. Mit etwas Termin-Glück winkt Geimpften damit noch vor den Sommerferien eine Lockerung der Corona-Maßnahmen.
In der kommenden Woche, so kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Freitag an, soll eine Million Dosen des Vektorimpfstoffs an die Arztpraxen geliefert werden, die dann ohne Priorisierung vergeben werden. Was man jetzt bedenken sollte, wenn man die Wahrnehmung Impfangebots in Betracht zieht:
Eine Frage des Alters
Bei Astrazeneca hat es seit Februar viel Hin und Her gegeben. Anfangs hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) keine Empfehlung für ältere Menschen ausgesprochen, da damals noch entsprechende Daten fehlten. Beim Einsatz des Mittels bei Jüngeren traten dann jedoch seltene, aber schwere und teils tödliche Nebenwirkungen nach der Impfung zu Tage: bestimmte, ungewöhnliche Blutgerinnsel in Kombination mit einer reduzierten Zahl von Blutplättchen.
Unter anderem die europäische Arzneimittelbehörde EMA nahm die Fälle unter die Lupe. Ergebnis: Der Nutzen der Impfung überwiege eindeutig das Risiko. In Deutschland empfiehlt die Stiko aktuell den Einsatz für Menschen ab 60 Jahren. In der Altersgruppe falle die Nutzen-Risiko-Abwägung »eindeutig zu Gunsten der Impfung« aus. Denn mit dem Alter steigt das Risiko für schwere und tödliche Verläufe von Covid-19 stark an. Auch für Jüngere ist die Impfung mit dem Präparat möglich, »nach ärztlicher Aufklärung und bei individueller Risikoakzeptanz durch den Patienten«, wie es die Stiko ausdrückt.
Eine Frage des Risikos
Wer jünger als 60 ist, sollte laut dem Aufklärungsblatt zur Impfung das Risiko der seltenen Komplikationen und das Risiko für eine Infektion mit dem Coronavirus und einer Covid-19-Erkrankung abwägen. Die Häufigkeit der speziellen Blutgerinnsel wird mit weniger als 0,01 Prozent bei den Geimpften unter 60 angegeben. Experten berichten, dass klassische Risikofaktoren wie die Einnahme der Pille offenbar keine Rolle bei der Komplikation spielen.
Argumente für oder gegen eine Impfung mit dem Vektorimpfstoff können das eigene (Kontakt-)Verhalten, der Beruf und die Inzidenz in der eigenen Region sein. Die Wahrscheinlichkeit, sich überhaupt zu infizieren, ist zum Beispiel bei weitgehend allein bleibenden Menschen in einem Ort mit niedrigen Infektionszahlen weitaus geringer als bei Personen mit vielen Kontakten in einem Corona-Hotspot.
Insgesamt sind nach RKI-Daten bislang mehr als fünf Millionen Astrazenca-Impfungen bundesweit verabreicht worden. Alarmsignale für die seltenen Komplikationen sind bekannt: Bei starken anhaltenden Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit, Beinschwellungen, anhaltenden Bauchschmerzen, neurologischen Symptomen oder punktförmigen Hautblutungen sollen sich Geimpfte umgehend ärztliche Hilfe holen. Es geht vorrangig um die Zeit von zwei bis drei Wochen nach der Impfung.
Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, erklärte: »Das Risiko der speziellen Thrombosen als Nebenwirkung ist sehr gering. Dagegen ist das Risiko einer schweren Komplikation durch Covid-19 für viele Personen sehr viel höher. Lediglich bei den unter 30-Jährigen würde ich zur Verwendung eines mRNA-Impfstoffes raten.«
Die Frage des Impfabstands
Die Stiko empfiehlt für Vaxzevria 12 Wochen zwischen erster und zweiter Dosis. Wie Spahn ankündigte, kann der Abstand nun aber nach Absprache zwischen Arzt und Impfling auf bis zu vier Wochen verkürzt werden. Das ist im Rahmen der Zulassung auch gedeckt. Viele wollten sich augenscheinlich nun nicht mit Astrazeneca impfen lassen, da sie nach zwölf Wochen erst im August den vollen Impfschutz bekämen, sagte Spahn am Freitag auch mit Blick auf die Urlaubszeit und Lockerungen für vollständig Geimpfte. Da auch die Erstimpfung schon schütze, gebe es aber in dieser Phase der Pandemie das Interesse, dass viele Menschen sich impfen lassen.
»Studien haben klar gezeigt, dass die Effektivität bei einem Abstand von weniger als sechs Wochen nur 55 Prozent beträgt und erst bei einem Abstand von zwölf Wochen bei über 80 Prozent liegt!«, betonte hingegen Experte Watzl. Man müsse den Menschen klar sagen: »Wenn Sie Ihren Impfabstand bei Astrazeneca verkürzen, um damit schneller in den Genuss von Lockerungen zu kommen, machen Sie das auf Kosten ihres Immunschutzes!« Die Prozentangaben beziehen sich auf die Verringerung der Zahl der Erkrankungen unter Geimpften im Vergleich zu Ungeimpften in Studien.
Kritik kam auch von Stiko-Mitglied Christian Bogdan. Das Gremium hatte sich bereits am Donnerstag für das Festhalten an der Priorisierung ausgesprochen. Begründet wurde dies mit noch recht hohen Anteilen an Ungeimpften auch bei Älteren und Vorerkrankten. Bogdan teilte mit, mit der neuen Regelung würden nun vor allem Menschen erreicht, die möglichst schnell den Status des vollständig Geimpften erlangen wollten. »Dies werden mehrheitlich vor allem junge Menschen sein, die an Covid-19 aber nur äußert selten schwer oder gar tödlich erkranken.«
Ein Vorteil der vorgezogen Zweitimpfung könnte Experten zufolge jedoch sein, dass bei einem verkürzten Abstand weniger Menschen ihre Zweitimpfung ausfallen lassen - zum Beispiel, weil sie an ihrem Termin im Urlaub weilen. (dpa)
Aufklärungsmerkblatt zu Astrazeneca
Bericht über Astrazeneca in »Science«
Interview mit Prof. Oldenburg zu Risikofaktoren für Komplikationen