Istanbul/Moskau/Sofia (dpa) - Durch die russisch-türkische Pipeline Turkish Stream strömt nun offiziell Gas. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan und Kremlchef Wladimir Putin nahmen am Mittwoch in Istanbul die Leitungen in Betrieb.
Sie hoben dabei die Bedeutung des Projekts für die Energiesicherheit Südeuropas hervor. An ihrer Seite standen unter anderem der serbische Präsident Aleksandar Vucic und Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow. Für die Türkei und Russland ist die Pipeline ein energiepolitischer Sieg. Aber auch Europa wird etwas davon haben.
Wie muss man sich die Pipeline vorstellen?
Turkish Stream verläuft von Südrussland bis zur nordwesttürkischen Küste unweit von Istanbul über rund 930 Kilometer durch das Schwarze Meer. Durch die Pipeline können jährlich bis zu 31,5 Milliarden Kubikmeter Gas fließen. Baubeginn war 2017. Russland liefert bereits seit 2003 über die Pipeline Blue Stream bis zu 16 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr in die Türkei. Überflüssig wird sie mit Turkish Stream nach Ansicht des Energie-Experten Simon Schulte von der Uni Köln nicht. Blue Stream soll den Osten der Türkei versorgen. Die neue Pipeline ist demnach für Istanbul und Umland bestimmt.
Das Gas soll aber noch weiter fließen - auch nach Europa?
Genau. Die Pipeline besteht aus zwei Strängen: Die eine Röhre leitet Gas direkt in die Türkei, die andere verläuft bis zur bulgarischen Grenze und ist für Lieferungen nach Süd- und Südosteuropa bestimmt. Beide sollen gleich viel Gas transportieren - nämlich je 15,75 Milliarden Kubikmeter. Ab der Grenze baut Bulgarien die Pipeline als Balkan Stream weiter bis an die serbische Grenze. Von da soll das Gas nach Ungarn geleitet werden. Lieferungen sollen auch in andere Staaten der Region wie in die Slowakei und Österreich ermöglicht werden. Die Arbeiten in Bulgarien sollen nach den Worten von Regierungschef Boiko Borissow bis Ende Mai 2020 abgeschlossen sein.
Welche wirtschaftliche Bedeutung hat das Projekt für die Türkei?
Die Türkei ist einer der größten Abnehmer für russisches Erdgas. Sie ist angesichts eines Mangels an eigenen Energiereserven chronisch energiehungrig und muss einen Großteil des Bedarfs importieren. Von Vorteil ist auch die Abzweigung Richtung Europa: Sie gibt der Türkei als Transitland mehr Macht auf dem Energiemarkt. Energieminister Fatih Dönmez hat es im Dezember so ausgedrückt: »Mit den Erdgasleitungen, die sowohl vom Osten als auch vom Norden kommen, werden wir auf den internationalen Märkten unverzichtbar sein.«
Spielen auch (sicherheits-)politische Aspekte eine Rolle?
Turkish Stream ist für die Türkei auch ein politischer Erfolg, in einem Sektor, in dem sie sich jüngst ausgeschlossen gefühlt hat. Derzeit liegt sie wegen Erdgasprojekten im Mittelmeerraum schwer mit Anrainern wie Zypern oder Griechenland über Kreuz. Ein Resultat: In einem höchst umstrittenen Schritt hat die Türkei im November mit dem Bürgerkriegsland Libyen ein Abkommen zu Seegrenzen geschlossen, über das sie nun einige der umstrittenen Gebiete mit reichen Erdgasvorkommen für sich beansprucht. Gerade hat die Türkei erste Soldaten nach Libyen entsandt, um im Bürgerkrieg den Allianzpartner, Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch, im Kampf gegen den einflussreichen General Chalifa Haftar zu unterstützen.
Warum ist die Pipeline für Moskau so wichtig?
Moskau geht es in erster Linie um alternative Routen für den Transit russischen Gases durch die Ukraine nach Europa. Der Krieg im Osten des Landes und die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 durch Russland haben Moskau und Kiew entzweit. Die Ukrainer sind für die Russen damit zu einem schwer berechenbaren Geschäftspartner geworden. Die Kontrolle über die als marode geltende Pipeline hat der staatliche ukrainische Energiekonzern Naftogaz. Zwar haben beide Länder ihren Vertrag verlängert. Unklar aber ist, wie es danach weitergeht. Mit der Leitung über Bulgarien kann Russland die Ukraine umgehen - ähnlich wie mit der Ostseepipeline Nord Stream 2.
Es geht aber auch um die Konkurrenz auf dem europäischen Markt, oder?
Ja. Russland will Süd- und Westeuropa auf direkterem Wege mit seinem Gas versorgen können. Es hat schon jetzt die Gasmärkte in Europa fest im Griff. Die Russen wollen aber gewappnet sein für den wachsenden Energiehunger der Europäer - zum Beispiel wenn Deutschland aus der Atom- und Kohleenergie aussteigt. Und sie wollen den USA die Stirn bieten, die in Europa ihr eigenes, teuer produziertes Flüssiggas absetzen wollen. Russlands schwächelnde Wirtschaft ist auf die Einnahmen aus dem Gasgeschäft dringend angewiesen.