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Aktuell Wirtschaft

Deutsche Industrie versucht den Aufbruch

Energie und Vernetzung sind auf der größten Industrieausstellung Standardthemen. Nach den Krisen sind sie für die Hannover Messe jetzt aber besonders wichtig.

Hannover Messe
Wieder am Start: Die Hannover Messe fiel wegen der Pandemie 2020 in Präsenzform ganz aus. Foto: Julian Stratenschulte
Wieder am Start: Die Hannover Messe fiel wegen der Pandemie 2020 in Präsenzform ganz aus.
Foto: Julian Stratenschulte

Der Blick in die Zukunft nimmt für den Kanzler an diesem Morgen konkrete Formen an. Auf der Hannover Messe setzt sich Olaf Scholz eine futuristisch anmutende Brille auf. Dadurch sieht er eine Anlage, die Wasser derart filtert, dass es für die Herstellung von Wasserstoff als erneuerbarem Energieträger genutzt werden kann - samt einer Fülle von Live-Daten zur Maschine.

Was der Regierungschef bei seinem Rundgang über die wichtigste Industrieschau ausprobiert, ist nur eines von vielen Beispielen, die mehr Klimaschutz und digitale Vernetzung »intelligenter« kombinieren sollen. Zu Tausenden werden Innovationen wie diese seit Montag auf der Ausstellung präsentiert. Sie sollen auch veranschaulichen, was Scholz meint, wenn er sagt, die Wirtschaft verstehe die Energiewende als Chance. »Viele Produkte, die hier gezeigt werden, haben das Zeug, echte Verkaufsschlager in der ganzen Welt werden«, glaubt er.

Sicher ist: Nach drei harten Corona-Jahren mit einem Totalausfall und zwei stark verkleinerten Auftritten hat die Hannover Messe eine Art Frühjahrsbelebung bitter nötig. Geht man durch die Hallen und Konferenzsäle, scheint sich die Stimmung in der Tat vielerorts zum Optimistischen zu wenden. Eine große thematische Klammer für die rund 4000 Aussteller bilden neue Techniken für mehr Energieeffizienz, die zumindest indirekt auch für Endverbraucher relevant werden dürften.

Ein Kernaspekt sind erneut »digitale Zwillinge«

Vernetzte Saugroboter, die den Personalmangel in der Gebäudereinigung lindern könnten. Gabelstapler, die wie im Videospiel per Joystick gesteuert werden. Oder die automatisierte Kultivierung von Algen, die CO2 speichern. Die Palette der Möglichkeiten ist vielfältig. Ein Kernaspekt sind erneut sogenannte digitale Zwillinge: virtuelle Doubles von Produkten oder Lagern, die helfen, Abläufe zu simulieren. Manchmal klappt die Modernisierung auch mechanisch - mit Exoskeletten. Diese am Körper getragenen Stützstrukturen entlasten die Gelenke bei schwerer körperlicher Arbeit beispielsweise in der Logistik.

Viele nennen den Aufbau neuer Datensysteme zur Verbrauchsregelung als weiteren Schwerpunkt - Stichwort: »smart metering«, also dynamische Koordination von Stromnachfrage und -angebot. »Der Waschmaschine ist es egal, ob sie nachts um 2.00 oder um 4.00 Uhr anfängt - Hauptsache, die Wäsche ist morgens um 10.00 Uhr gewaschen«, sagt Gunther Kegel vom Elektro- und Digitalverband ZVEI. »Über intelligente Steuerung und Knotenpunkte können solche Geräte künftig mit dem Netzanbieter und Stromversorger verhandeln, wann der günstigste Zeitpunkt ist.«

Vodafone zeigt ein Verfahren, das Betriebsdaten älterer Industrieanlagen zugänglich machen soll, etwa mit dem Ziel einer effizienteren Taktung oder leichteren Wartung. Microsoft informiert über »bedeutende Fortschritte bei der Nutzung künstlicher Intelligenz«, um Beschäftigte oder Lieferketten besser zu vernetzen. Nokia lässt unter anderem autonome Roboter vorfahren, die nebenbei die Arbeitssicherheit erhöhen sollen. Auch Behörden wie die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung positionieren sich - in diesem Fall mit einem Kompetenzzentrum für Wasserstoff.

Partnerland der Messe ist in diesem Jahr Indonesien

Scholz würdigt die Zusammenarbeit mit der größten Volkswirtschaft Südostasiens, in der knapp 280 Millionen Menschen leben. »Indonesien und Deutschland haben dieselben Werte«, sagt der Kanzler bei seiner Messevisite mit Präsident Joko Widodo. »Diese Messe wird dazu beitragen, dass wir unsere wirtschaftlichen Beziehungen noch weiter ausbauen können.«

Das Land der 17.000 Inseln will verstärkt in digitale Technologien investieren. Widodo erklärt, Indonesien werde sich zu einer grünen Wirtschaft wandeln und ruft dazu auf, den Umbau »für eine bessere Welt« zu beschleunigen. Manch einer dürfte die Worte eher skeptisch aufgenommen haben - Aktivisten von Amnesty International forderten bereits am Sonntag mit einer Mahnwache in Hannover, die Rechte der Bevölkerung bei Bergbauprojekten zu respektieren.

Über die Jahre hat sich das heutige G20-Mitglied Indonesien zu einem ökonomischen Schwergewicht entwickelt. Neben dem Abbau von Metallen und dem Export von Agrarrohstoffen boomen weitere Branchen. Gleichzeitig nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich zu.

Im Zusammenhang mit der Planung der neuen Hauptstadt Nusantara auf Borneo - sie soll ökologischen Vorbildcharakter haben - warnen Umweltschützer vor zerstörten Lebensräumen gefährdeter Tiere. Auch Umsiedlungen werden beklagt. Scholz will sich dafür einsetzen, dass ein Freihandelsabkommen der EU mit Indonesien bald entscheidungsreif wird. Lieferkettenregeln sollen die Einhaltung von Standards sichern.

Mangel an Fachpersonal in Deutschland

In Deutschland bereitet der Industrie derweil vor allem der Mangel an Fachpersonal Kopfschmerzen. Scholz wirbt für technische Lehrberufe: »Wer sich für den Weg entscheidet, eine Ausbildung zu wählen, macht alles richtig für die eigene Zukunft und für die Zukunft unseres Landes.« Der Maschinenbauverband VDMA stellt alarmierende Ergebnisse einer Umfrage vor: Fast überall gebe es Personalengpässe, die Hälfte der Betriebe befürchte eine Verschärfung. »Wir müssen die technische Bildung in der Schule verbessern«, sagt Verbandschef Karl Haeusgen.

Teure Energie und teils ausufernde Bürokratie sind aus Branchensicht ebenfalls Faktoren, die die Attraktivität des Standorts Deutschland gefährden. Der Bundesverband der Deutschen Industrie schätzt, dass die so wichtigen Exporte 2023 hinter das Wachstum des Welthandels zurückfallen. Laut einer Untersuchung der Beratungsfirma Deloitte sehen manche Firmen das Risiko einer Deindustrialisierung. Haeusgen hält solche Szenarien noch für etwas übertrieben. Aber: »Deutschland und Europa müssen sich im globalen Wettbewerb mehr anstrengen.«

© dpa-infocom, dpa:230417-99-342968/5