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Wie junge Britinnen gegen sexuelle Gewalt kämpfen

Das Verschwinden einer jungen Frau auf offener Straße und ihre brutale Tötung haben sexuelle Gewalt in Großbritannien ganz oben auf die Agenda gebracht - mit bemerkenswerten Folgen.

Kampf gegen sexuelle Gewalt
Die Londoner Studentin Soma Sara hat eine Initiative für Opfer von sexueller Belästigung und Gewalt gegründet. Foto: -/Privat/dpa
Die Londoner Studentin Soma Sara hat eine Initiative für Opfer von sexueller Belästigung und Gewalt gegründet. Foto: -/Privat/dpa

LONDON. Es geht um Mitschüler, die unter dem Tisch übergriffig werden. Um Lehrer, die ihren Schülerinnen auf die Brüste starren. Um vermeintliche Studienfreunde, die sich als Vergewaltiger herausstellen.

Die anonymen Berichte auf der Internetseite »Everyone's Invited« (auf Deutsch: »Alle sind eingeladen«) - es sind mittlerweile 16 340 - stammen von britischen Schülerinnen und Studentinnen im ganzen Land. Manchester, Eton, Highgate, Swansea: Unbekanntere Colleges und staatliche Schulen gehören ebenso zu den Schauplätzen wie teure Privatschulen oder die renommierten Elite-Unis in Oxford oder Cambridge.

Hinter »Everyone's Invited« steht Soma Sara, die im vergangenen Jahr zunächst über Instagram anfing, sich über sexuelle Belästigung und Gewalterfahrungen auszutauschen. »Ich war total überwältigt«, erzählt die 22-jährige Londoner Studentin im dpa-Gespräch über die Zeit, in der fast alle Frauen aus ihrem Umfeld ihre Erfahrungen mit ihr teilten. Als sie rund 300 Beispiele gesammelt hatte, war klar für Sara: »Das ist nur die Spitze des Eisbergs.«

Mit einigen Mitstreiterinnen schuf sie daraufhin die Plattform »Everyone's Invited«. Das Prinzip: Betroffene schreiben ihre Erfahrungen auf und teilen sie mit der Initiative, die Beispiele werden - oft mit Namen der jeweiligen Uni - auf der Seite veröffentlicht. »Das gibt vielen Leuten ein Gefühl von Selbstermächtigung, Solidarität und Gemeinschaft«, erzählt die Gründerin. »Wenn du selbst nicht bereit bist, deine Erfahrung zu teilen, kannst du immer noch die Geschichten auf der Seite lesen und merken, dass du nicht alleine bist und dich nicht schämen solltest für das, was du durchgemacht hast.«

Im März, nachdem in London die 33-jährige Sarah Everard abends auf ihrem Nachhauseweg mutmaßlich von einem Polizisten entführt und getötet wurde, versammelten sich trotz Corona-Lockdown Tausende Menschen auf den Straßen, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen. »Everyone's Invited« erlebte in diesen Wochen einen regelrechten Boom.

»Es war ein interessanter historischer Moment, ein Moment des «Genug ist Genug»«, meint die Anwältin Georgina Calvert-Lee, die schon seit Jahren Opfer von sexueller Gewalt und Belästigung rechtlich vertritt. Neben dem Mordfall hätten auch die Black-Lives-Matter-Proteste und die Pandemie, in der Gewalt gerade im häuslichen Bereich zunahm, dazu beigetragen, dass viele Frauen ihre Stimme erhoben. Dass Belästigung an Schulen und Universität keine Seltenheit zu sein scheint, überrascht Calvert-Lee nicht: »Ich denke, wir haben ein gesellschaftliches Problem, dass Frauen abgewertet werden. Schulen und Universitäten sind nur einige der Orte, an denen Menschen zusammenkommen und an denen sich das manifestiert.«

»Everyone's Invited« beschreibt sich selbst als »Bewegung, die sich dafür einsetzt, die «Vergewaltigungskultur» auszurotten«. Soma Sara gibt zu, dass der Begriff ein extremer ist - allerdings ist er bewusst so gewählt. »Das Wort Vergewaltigung kann sich für einige Leute extrem anfühlen«, sagt die Aktivistin. »Aber es geht darum, damit wirklich eine breite, komplexe Kultur des Missbrauchs anzusprechen.« Saras Ansicht nach kommen viele Vergewaltiger nur deshalb ungeschoren davon, weil weniger drastische Arten der Belästigung in der Gesellschaft als normal angesehen und nicht diskutiert würden. Das mache es Frauen so schwer, sich zu wehren.

Dass »Rape Culture«, der englische Begriff für »Vergewaltigungskultur«, es in den vergangenen Wochen mehrfach auf die Titel großer britischer Zeitungen geschafft hat, sieht Sara als Erfolg ihrer Initiative an.

Für die Schulen und Universitäten, die ins Kreuzfeuer geraten sind, sind die Enthüllungen nicht nur ein Image-Problem. »Sie haben auch eine Fürsorgepflicht«, sagt Anwältin Calvert-Lee. Einige Betroffene haben bereits gegen ihre Unis geklagt, weil sie diese Fürsorgepflicht als verletzt ansehen. Bislang ist es jedoch nicht zu einem Prozess gekommen, da viele der Fälle außergerichtlich beigelegt werden.

Calvert-Lee wertet das als Zeichen, dass die Unis die Klagen als begründet ansehen. »Je überzeugender die Argumentation, desto wahrscheinlicher ist eine außergerichtliche Einigung«, erklärt die Anwältin. Sie hofft, dass ein solcher Fall eines Tages tatsächlich vor Gericht landet. »Das könnte helfen, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen«, meint die Chefin der Kanzlei McAllister Olivarius. »Außerdem würde es die rechtliche Lage klarer machen.«

Die Universitäten selbst hüllen sich weitgehend in Schweigen. Von einem halben Dutzend angeschriebener Hochschulen, die bei »Everyone's Invited« aufgelistet sind, beantwortete keine einzige die Frage nach Konsequenzen. Auch die Aufsichtsbehörde Ofsted, die von der britischen Regierung damit beauftragt wurde, dem Problem auf den Grund zu gehen, verwies auf die spätere Veröffentlichung eines umfassenden Berichtes. Selbst eine Hilfs-Hotline der Kinderhilfsorganisation NSPCC, die nach dem Aufkommen der Berichte eine eigene Rufnummer für Betroffene einrichtete, lehnte einen Kommentar ab. Auch sie will sich erst später ausführlich äußern.

Soma Sara wünscht sich vor allem, dass die Debatte weitergeht und nicht im Sande verläuft. »Weil es so weit verbreitet ist, muss jeder an Bord sein, um diese Kultur zu ändern«, so die Aktivistin. Schulen und ihr Personal dürften dabei ein wichtiger Schlüssel sein: Einer YouGov-Umfrage zufolge sagten vier von fünf Frauen, Schulen sollten Jungen respektvolles Verhalten gegenüber Mädchen und Frauen beibringen - auch immerhin knapp 70 Prozent der Männer stimmten zu. (dpa)

Webseite »Everyone's Invited«

YouGov-Umfrage