TUCSON (USA). Dem Ex-Freund eine verheulte Liebesbotschaft geschickt, die ganze Schokolade gemampft, den Computer aus Frust geschreddert: Nachts ist der Mensch ein anderer. Wer den Tag beherrscht meistert, der verliert in der Nacht die Kontrolle. Das wusste schon Ted Mosby, Kult-Figur aus der US-Sitcom »How I Met Your Mother«. Er riet dem Fernsehpublikum um die Jahrtausendwende: »Nichts Gutes passiert nach zwei Uhr. Geht einfach nach Hause.«
Den nächtlichen Aussetzern wissenschaftlich auf den Grund gegangen sind jetzt ein paar US-Schlafforscher um Andrew S. Tubbs in der Fachzeitschrift »Frontiers in Network Physiology«. Sie sichteten zig Studien und stellten fest: Nachts meucheln die meisten Killer ihre Opfer, setzen die meisten Selbstmörder ihrem Leiden ein Ende, leeren die meisten Koma-Trinker das Spirituosenregal und plündern die meisten Binge-Esser den Kühlschrank. Die Schuldigen für die nächtlichen Entgleisungen sind schnell ausgemacht: Für gewöhnlich müssen der Schutz der Dunkelheit, die fehlende soziale Kontrolle zu später Stunde oder die Unzurechnungsfähigkeit wegen Übermüdung herhalten.
Doch mit dieser Erklärung des Phänomens geben sich die US-Forscher nicht zufrieden. Sie graben tiefer. Ihre Hypothese lautet: Nicht der Mensch selbst benimmt sich daneben, sondern sein »Mind after Midnight«: sein »Gehirn nach Mitternacht«. Es ist auf Schlaf gepolt. Muss es trotzdem arbeiten, dreht es am Rad. Die neurophysiologischen Prozesse, die tags reibungslose Abläufe garantieren, brechen nachts zusammen.
Die Nervenzellen übertragen Signale falsch, der präfrontale Cortex (zuständig für den Verstand) geht in den Ruhemodus. Stattdessen dreht die Amygdala (das Zentrum der Emotionen) auf. Das Glückshormon Serotonin und das Anti-Stress-Hormon Cortisol werden gedrosselt. Das Motivations-Hormon Dopamin wird verstärkt ausgeschüttet.
In der Summe braut sich damit ein gefährlicher biochemischer Cocktail im Hirn zusammen: Der Verstand verliert die Kontrolle, das Gefühl übernimmt das Kommando, die Stimmung kippt. Gedanken verlieren sich in Endlos-Schleifen, das kleinste Problem erscheint riesengroß. Aufregende Nervenkitzel werden gesucht, riskante Entscheidungen getroffen und negative Konsequenzen unterschätzt. Schädliche Impulse werden nicht gezügelt, grobe Fehler nicht korrigiert. So kommt es zu durchzechten Nächten und verkaterten Morgen – obwohl man es eigentlich besser weiß.
Oder zu künstlerischen Meisterwerken. Denn die Kehrseite der Medaille sind intensive Gefühle, entfesselte Kreativität und ungebremster Mut. Der innere Zensor verstummt, die Ideen sprudeln. Schiller war solch ein Nachtarbeiter: Er schrieb seine Theaterstücke, wenn andere Leute schliefen.
Wer also das Genie in sich erwecken will, der kann gleich heute Nacht aufbleiben. Er sollte aber aufpassen, dass er nicht endet wie van Gogh mit abgeschnittenem Ohr. Oder er erspart sich das ganze Drama – und geht früh zu Bett. (GEA)