BERLIN. Herbst und Winter stehen vor der Tür und mit Beginn der kalten Jahreszeit wird die Zahl der Corona-Infektionen wieder steigen. Es sei zu erwarten, dass es in den kommenden Wochen eine Welle von Erkrankungen geben werde, sagt Sandra Ciesek. Die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt gibt jedoch zugleich Entwarnung: Die Lage sei keinesfalls bedrohlich und nicht zu vergleichen mit 2020 oder 2021. Es drohten keine Engpässe in den Kliniken und auf den Intensivstationen. »Es ist wie letztes Jahr, nur die Varianten und Buchstaben heißen anders«, erklärt die Ärztin. Ein Überblick über die aktuelle Infektionslage.
Wie viele Corona-Fälle gibt es?
Der leichte Anstieg der Corona-Fälle in den vergangenen Wochen hat sich einem Bericht des Robert Koch-Instituts (RKI) zufolge zuletzt nicht fortgesetzt. Lag die Inzidenz zuletzt bei knapp 1.000 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner, wird sie jetzt auf 600 geschätzt. Auch die von Krankenhäusern gemeldeten Coronainfektionen sanken von rund 6.400 auf etwa 5.600 Fälle pro Woche.
Beim Abwassermonitoring gab es ebenfalls Entwarnung: Seit August meldeten Klärwerke einen leichten, aber stetigen Anstieg der Sars-CoV-2-Belastung im Abwasser – ein wichtiges Frühwarnsystem für das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung. Der Anstieg hat sich aktuell nicht mehr fortgesetzt, schreibt das RKI.
Schwere Verläufe traten wie schon in den vergangenen Monaten selten auf. Wöchentlich weniger als zwei Personen pro eine Million Einwohner wurden mit Covid-19 auf der Intensivstation behandelt; betroffen waren vor allem Personen über 60 Jahre. Das zeigt, dass die Bevölkerung eine wachsende Immunität gegen Sars-CoV-2 ausbildet.
Wie steht es mit Erkältung und Grippe?
Eine neue Erkältungswelle im Herbst bahnt sich an. Laut RKI nahmen Atemwegserkrankungen zu von 5.200 Fällen pro 100.000 Einwohner in der Vorwoche auf 6.900 Fälle in der letzten Woche. Deutschlandweit betroffen sind damit 5,8 Millionen Menschen, statistisch gesehen hat jeder Fünfzehnte eine Erkältung. Hauptsächlich stecken sich Kinder zwischen 0 und 14 Jahren sowie Erwachsene zwischen 35 und 59 Jahren an. Auch die Zahl der Arztbesuche wegen Atemwegsinfektionen stieg. Deutschlandweit zählten Mediziner letzte Woche 940.000 Termine.
Bei den meisten Atemwegsinfektionen handelt es sich RKI-Stichproben zufolge um Erkältungen, ausgelöst durch Rhinoviren (20 Prozent), sowie um Covid-19, ausgelöst durch SARS-CoV-2-Viren (16 Prozent). Für Covid-19 ist das prozentual ein leichter Rückgang im Vergleich zur Vorwoche, bewegt sich aber seit drei Monaten ungefähr auf diesem Niveau. Da aber kaum noch auf Covid getestet wird und positive Schnelltests ohne Arztbesuch nirgendwo gemeldet werden, ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer höher liegt. Influenzaviren, verantwortlich für Grippe, konnte das RKI nicht nachweisen.
Die Zahl schwerer Verläufe bei Atemwegsinfektionen sank laut RKI deutlich. Insgesamt liegt sie auf niedrigem Niveau. Außer bei den 5- bis 34-Jährigen, dort ist sie höher als in den Vorjahren. Von den Lungen-Intensivpatienten in Krankenhäusern sind 12 Prozent Covid-Patienten (234 Menschen). Das entspricht einer Auslastung der Intensivbetten von 1,4 Prozent. Dieser Wert blieb in den vergangenen vier Wochen stabil.
Wie ist die Lage im Südwesten?
In Baden-Württemberg ist die Lage ähnlich: Auch hier treten nach Angaben des Landesgesundheitsamts mehr Atemwegserkrankungen auf. Der Anstieg ist ungewöhnlich hoch für die Jahreszeit. »In den Praxen sehen wir, dass über den Sommer hinweg ein für die Jahreszeit recht hohes Infektionsgeschehen herrschte, das jetzt durch das nasskalte Wetter an Fahrt aufnimmt«, sagte Susanne Bublitz, Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg und selbst Hausärztin in Pfedelbach (Hohenlohekreis). Deswegen gab es dem Landesgesundheitsamt zufolge letzte Woche etwa 83.490 Arztbesuche, in der Vorwoche lag der Wert bei rund 76.000 Arztbesuchen. Besonders betroffen waren Kinder bis vier Jahre.
Die Infektionen gehen nach Angaben der Behörde vor allem auf Erkältungsviren (16 Prozent) und Coronaviren (11 Prozent) zurück. 458 Covid-19-Fälle wurden letzte Woche gemeldet, die meisten Patienten waren 80 Jahre und älter. Außerdem gab es 18 Fälle von Grippe und 303 Fälle von Keuchhusten.
Welche neuen Varianten gibt es?
In Deutschland dominiert nach RKI-Angaben derzeit die Variante JN.1, ein Abkömmling der Omikron-Variante. Am häufigsten nachgewiesen wurde dabei zuletzt die Sublinie KP.3.1.1. Laut RKI machte sie bei der Untersuchung von Stichproben aus den letzten beiden Augustwochen einen Anteil von 62 Prozent aus.
Etliche Medien berichten zudem über die neue Variante XEC: eine Hybridvariante, die sich aus den beiden Omikron-Untervarianten K.S.1.1. und KP.3.3. gebildet hat. XEC sei aktuell auf dem Vormarsch und werde sich nach Meinung mancher Experten früher oder später vermutlich durchsetzen. Ob es wirklich so kommt, ist unklar: »Seit Juni 2024 wurden in Deutschland Fälle im zweistelligen Bereich nachgewiesen«, heißt es vom RKI. Das sind so wenige Fälle, dass sie bisher nicht einmal in den Berichten des RKI auftauchen. Es sei generell nicht möglich, Prognosen für die Ausbreitung einzelner Varianten zu treffen, schreibt das RKI.
Wie ansteckend sind die Varianten?
KP.3.1.1. ist japanischen Wissenschaftlern zufolge ansteckender als die Vorgänger. Denn durch leichte Veränderungen am Virus könne die Variante bestehenden Antikörpern ein Stück weit ausweichen. Das sei wenig verwunderlich, sagt die Frankfurter Virologin Ciesek. Das Virus mutiere weiter und suche immer neue Wege, um den Menschen zu infizieren. Am Ende setze sich eine Variante durch, die irgendeinen Vorteil habe und zum Beispiel ansteckender sei – wie im Fall von KP.3.1.1.
Auch XEC ist vergleichsweise ansteckend. Durch ein verändertes Spike-Protein kann sich die Mutation nach Einschätzung von Experten besser an menschliche Zellen binden.
Wie gefährlich sind die Varianten?
KP.3.1.1. gilt zwar als ansteckender – das heißt aber nicht, dass die Variante auch kränker macht, sagt Ciesek. »Da gibt es im Moment keine Hinweise drauf.« Dasselbe gilt für XEC.
Beide Mutationen rufen die bekannten Corona-Symptome hervor: Patienten berichten von Schnupfen, Husten und Halsschmerzen, Kurzatmigkeit und Atembeschwerden, Fieber und Schüttelfrost, Übelkeit und Durchfall, Müdigkeit und Erschöpfung, Kopf- und Gliederschmerzen, Verlust von Geschmack und Geruch.
Wer braucht eine frische Impfung?
Es sei nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen nach wie vor und auch zum wiederholten Mal mit dem Virus infizieren, sagt Ärztin Ciesek. »Man kriegt Atemwegserkrankungen nicht nur einmal im Leben, sondern immer wieder, manche jedes Jahr, manche alle zwei Jahre.« Die Immunität, die durch eine zurückliegende Infektion oder Impfung entsteht, nehme mit der Zeit ab und der Mensch werde wieder empfänglich für eine Infektion.
Dennoch solle man Corona nicht verharmlosen. Mehr Infektionen bedeuten der Virologin zufolge mehr schwere Fälle. »Alle, die zu Risikogruppen gehören, die kein gesundes Immunsystem haben oder einen schweren Verlauf zu erwarten hätten, die täten gut daran, sich jetzt impfen zu lassen, damit sie sich in der Welle nicht anstecken«, empfiehlt Ciesek.
Diese Ansicht teilt auch die Ständige Impfkommission (Stiko). Sie rät Risikopatienten zu einer jährlichen Auffrischimpfung im Herbst. Als gefährdet gelten Menschen über 60 Jahre, Bewohner eines Pflegeheims, Mitarbeiter im Gesundheits- und Pflegebereich sowie Menschen mit einer Vorerkrankung. Als Vorerkrankungen mit hohem Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf gelten chronische Krankheiten der Atmungsorgane, chronische Krankheiten von Herz, Kreislauf, Leber und Niere, Adipositas und Diabetes, Immundefizienz und Demenz. Wenn Personen dieser Gruppen allerdings im laufenden Jahr bereits eine Infektion hatten und ihr Immunsystem gesund ist, dann ist nach Stiko-Angaben keine zusätzliche Impfung in diesem Herbst nötig.
Trotz dieser Warnungen, so die Stiko, besteht in Deutschland eine gute Grundimmunität gegen Corona. Denn der Großteil der Bevölkerung ist mehrfach geimpft oder mehrfach erkrankt. Die meisten Infektionen verlaufen mild.
Darum empfiehlt die Stiko gesunden Erwachsenen bis 60 Jahre bei bestehender Basisimmunität keine Auffrischungsimpfung. Eine Basisimmunität liegt vor, wenn die Person durch Impfung oder Infektion insgesamt dreimal Kontakt mit dem Erreger hatte. Mindestens einer dieser Kontakte sollte durch eine Impfung erfolgt sein. Die Basisimmunität macht eine Infektion zwar nicht unmöglich, einen schweren Krankheitsverlauf aber unwahrscheinlich.
Gibt es einen neuen Impfstoff?
Die Industrie arbeitet kontinuierlich an neuen Impfstoffen. Der letzte erschien im August, doch Moderna und Biontech sind bereits in der letzten Testphase eines neuen Vakzins. Er soll nächstes Jahr zugelassen werden. Weil es sich bei KP.3.1.1. und XEC um Unterstämme von Omikron handelt, gehen Experten allerdings davon aus, dass die auf dem Markt erhältlichen Impfstoffe weiterhin Schutz vor schweren Infektionen bieten.
Welche Regeln gelten für Infizierte?
Gesetzliche Regeln gibt es zwar nicht mehr. Trotzdem seien die Maßnahmen, die in der Corona-Pandemie angewendet wurden, weiter hilfreich, meint Hausärztin Bublitz. »Händewaschen, regelmäßiges Lüften und bei Bedarf Masketragen helfen, Infektionen vorzubeugen«, rät die Medizinerin. »Wer sich krank fühlt, der sollte zu Hause bleiben, sich testen und sich gegebenenfalls isolieren, um Ansteckungen von Risikogruppen wie älteren Menschen oder Immungeschwächten zu vermeiden.« (GEA)