Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle (53) will bei den Internationalen Filmfestspielen künftig größere Filmtitel auf der Leinwand zeigen. »Wir sprechen nicht über eine umfassende, radikale Änderung des Programms«, sagte Tuttle der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. »Ich denke, es geht einfach um Weiterentwicklung und Klarheit und vielleicht darum, im Laufe der Zeit einige der größeren Filmtitel für die Berlinale zurückzugewinnen.« Die US-Amerikanerin hat Anfang April die Intendanz des Filmfestivals übernommen.
Sie würde gerne sehen, dass bei dem Festival gezeigte Produktionen mehr Einfluss auf das internationale Filmgeschäft haben, betonte Tuttle. Es gehe nicht darum, die Art und Weise der Programmgestaltung zu verändern. Vielmehr wolle sie Verleihern, Programmgestaltern und Kritikern dabei helfen, Filme im Programm zu finden, um sie einem weiteren Publikum im internationalen Markt zuzuführen.
Tuttle tritt die Nachfolge der Doppelspitze aus Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek an. Damit steht erstmals eine Frau allein an der Spitze der Berlinale. Erst kürzlich sei sie nach Berlin gezogen, erzählte sie. Nun lerne sie Deutsch. Es gehe gut voran, aber langsam. Deutsch sei eine schwierige Sprache.
Tuttle kennt Alltag als Festivalchefin schon gut
Die 53-Jährige wirkt selbstbewusst. Schließlich kennt sie den Alltag als Festivalchefin gut: In England hat sie das BFI London Film Festival und das Londoner LGBTQIA+ Filmfestival - die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle, Queere und andere - geleitet. Zudem war sie zum Beispiel in leitenden Positionen beim British Film Institute (BFI) oder der British Academy of Film and Television (BAFTA) tätig.
Eine erste öffentliche Herausforderung erwartet die neue Leiterin an diesem Mittwoch im Bundestag: Dann sollen im Kulturausschuss die umstrittenen Vorfälle bei der Bären-Gala thematisiert werden. Neben Tuttle werden auch die ehemalige Berlinale-Geschäftsführerin Rissenbeek und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erwartet.
Während der Abschlussgala im Februar war der Nahostkonflikt mehrfach angesprochen worden. Zahlreiche Mitglieder aus Jurys sowie Preisträgerinnen und Preisträger forderten verbal oder mit Ansteckern einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. In Statements war auch die Rede von Apartheid im Zusammenhang mit der Situation in den von Israel besetzten Gebieten und von Genozid (Völkermord) mit Blick auf das Vorgehen der Armee in Gaza.
Tuttle: Für Berlinale-Team war dieses Jahr sehr schwierig
Im Anschluss gab es zahlreiche Kritik bis hin zu Vorwürfen von Israelhass und Antisemitismus. »Ich weiß, dass dieses Jahr für das Team sehr schwierig war. Egal, was das Festivalteam gemacht hat, irgendwer war immer unzufrieden. Das ist eine große Belastung und ein großer Stress«, sagte Tuttle mit Blick auf die Debatte.
»Ich glaube, es war unglücklich, dass wir am Ende nicht mehr über die Filme und die Regisseure gesprochen haben, sondern über den Diskurs und die Politik drumherum.« In diesem Jahr habe sie als noch Außenstehende verstanden, dass die Debatte in Deutschland ein wenig anders verlaufe als international. »Ich glaube, Filmemacher von außerhalb verstehen nicht ganz die Sensibilität, wenn es um die Frage geht, wie man Antisemitismus hier in Deutschland interpretiert.«
Tuttle rechnet mit einem ständigen Prozess. Zwar könnten sich Menschen bei politischen Themen wie dem Nahost-Konflikt nicht allein durch Filmfestivals einigen. Doch Filme könnten das Denken über die Welt verändern. »Ich glaube, das Kino ist momentan einer der wenigen kulturellen Räume, in denen Verständnis stattfinden kann. Das Erzählen von Geschichten ermöglicht es uns, die Welt mit den Augen anderer Menschen und durch andere Linsen zu sehen«, sagte Tuttle. Die Berlinale solle ein Raum bleiben für den Dialog hinweg über nationale, kulturelle und politische Ideen. »Es ist ein Ort, an dem man voneinander lernen und einander zuhören kann.«
Mehr Klarheit bei Sektionsprofilen
Bis zu ihrer ersten Berlinale hat Tuttle noch etwas Zeit. Die 75. Ausgabe der Filmfestspiele ist vom 13. bis 23. Februar 2025 geplant. Sie hat sich schon einiges vorgenommen. So möchte sie wieder deutlichere Abgrenzungen bei den Berlinale-Reihen schaffen. »Das Programm war großartig.« Allerdings höre sie von Verleihern, Kritikern oder Besuchern, dass sie es »ein bisschen schwierig finden, sich in den Sektionen zurechtzufinden«. Dort könne mehr Klarheit entstehen. Auch eine mehrstufige Führungsstruktur will Tuttle schaffen. Auf der Internetseite der Berlinale sind momentan einige Stellen ausgeschrieben, auch Spitzenposten.
Ein Augenmerk will sie auf deutsche Filme und Talente legen. Als sie nach Großbritannien ging, habe sie festgestellt, dass viele Briten das dortige Kino etwas heruntergemacht haben. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass dies auch in Deutschland der Fall ist, dabei gibt es hier großartige Filme.« Das oscarnominierte Drama »Das Lehrerzimmer« von Ilker Çatak etwa habe sie umgehauen.
Zudem will Tuttle Vielfalt von Stimmen und Perspektiven innerhalb des Festivals - zum Beispiel bei der Repräsentanz von Regisseurinnen. »Die meisten Festivals haben mittlerweile damit begonnen, Filmemacherinnen ins Rampenlicht zu rücken, sie zu fördern und zu präsentieren«, so Tuttle. Trotzdem müsse noch einiges in der Filmindustrie getan werden - »vor allem, wenn man sich die Filme in den Top 100 der internationalen Einspielergebnisse ansieht, die immer noch von männlichen Filmemachern dominiert werden«.
© dpa-infocom, dpa:240409-99-608026/2