Die graue Wolkendecke liegt schwer über dem kleinen Örtchen Illerkirchberg. Es ist kalt und trist an diesem Montagnachmittag. Die Einwohner huschen vorbei und winken ab. Die meisten von ihnen wollen nicht über das reden, was an diesem Morgen passiert ist - und was die Gemeinde bis ins Mark erschüttert.
Illerkirchberg ist ein beschaulicher Ort südlich von Ulm, knapp 5000 Einwohner, Kindergärten, Grundschulen, ein Fuggerschloss. Einfamilienhäuser säumen die Hauptstraße, Schaukeln und Spielgeräte stehen in den Vorgärten. An der Bushaltestelle hängt ein Zettel, dass Kater Sammy gesucht wird.
Nur wenige Meter weiter geht die Bucher Straße ab. Pinke Sprühfarbe zeugt von dem schrecklichen Verbrechen, das sich hier wenige Stunden zuvor ereignet hat. Die Spurensicherer der Polizei haben mit der Farbe großflächig die Straße und eine Mauer besprüht, verschiedene Bereiche nummeriert. Der Asphalt ist noch feucht - dort, wo die Einsatzkräfte das Blut von der Straße gespült haben. Anwohner haben einen kleinen Strauß und Kerzen aufgestellt, deren Licht mit dem Einbruch der frühen Dunkelheit an der Mauer flackert.
Auf dem Weg zur Schule
Montagmorgen um 7.30 Uhr gehen hier zwei Mädchen entlang, sie sind auf dem Weg zur Schule. Dort kommen sie nie an. Ein Mann attackiert sie mit einem Messer - genau hier, in der Bucher Straße, an einer niedrigen Mauer, verletzt er sie beide schwer. Eines der Opfer, ein 14 Jahre altes Mädchen, muss noch am Tatort wiederbelebt werden. Es stirbt später in einer Klinik. Das zweite Mädchen, ein Jahr jünger, wird in ein Krankenhaus gebracht. Seine Verletzungen sind zumindest nicht lebensgefährlich, wie die Ermittler am Abend mitteilen.
Noch am Vormittag rast ein Spezialeinsatzkommando der Polizei nach Illerkirchberg. Die Männer durchsuchen eine Flüchtlingsunterkunft und nehmen dort drei Männer fest. Alle drei sind laut Polizei und Staatsanwaltschaft Asylbewerber aus Eritrea. Einer der drei ist 27 Jahre alt, bei ihm finden die Beamten ein Messer - womöglich die Tatwaffe. Er gilt als Hauptverdächtiger, wird in ein Krankenhaus gebracht, steht dort unter Bewachung durch die Polizei. Als die Beamten ihn in der Unterkunft auffanden, war er verletzt - die Hintergründe dafür blieben erst einmal unklar.
Zunächst kaum Informationen
Bevor die Ermittler viele Stunden nach der Tat die Details zum Angreifer bekannt geben, halten sie sich bis zum Abend bedeckt, reagieren auf Anfragen abweisend. Am Nachmittag steht nur noch ein Streifenwagen am Tatort. Direkt gegenüber haben die Beamten die Eingangstür der Unterkunft versiegelt, dorthin soll der Täter nach dem Angriff geflüchtet sein. Es habe wohl öfter Probleme mit den Bewohnern in diesem Haus gegeben, hört man im Ort. Das Gebäude ist heruntergekommen, Fenster sind eingeschlagen, der Putz bröckelt. Auf dem Dach hängen am Schneefang ein paar alte Fußbälle fest.
Ermittler und Staatsanwaltschaft nutzen ihre abendliche Pressemitteilung für einen Appell, wie man ihn eher selten liest. Die Polizei sei sich bewusst, »dass Ereignisse dieser Art Ängste und Emotionen schüren«. »Sie bittet daher darum, keinen Generalverdacht gegen Fremde, Schutzsuchende oder Asylbewerber allgemein zu hegen oder solchem Verdacht Vorschub oder Unterstützung zu leisten«.
Ein paar Meter vom Tatort entfernt wartet am Nachmittag eine Frau mit ihrem kleinen Jungen gerade an der roten Ampel. Das Kind hält ein großes Bild in seiner Hand, ein gemalter Hund ist darauf zu sehen. Sie wolle das Geschehen nicht kommentieren, habe mit ihrem Sohn noch nicht über die Tat geredet. Er sei noch im Kindergarten, sagt sie. Dann gehen die beiden über die Straße und davon.
»Das ist furchtbar«, sagt ein 72-jähriger Mann, der die Straße entlang läuft. »Furchtbar.« Er wohnt ein paar Meter den Berg hoch, das Blaulicht der Einsatzwagen leuchtete morgens durch sein Fenster. »Ich habe mir zuerst nichts dabei gedacht«, sagt er. Der Mann ging von einem Unfall aus. Er lebt schon fast sein ganzes Leben in der Gemeinde. Sowas habe er noch nicht erlebt.
»Wir hoffen, dass das ein Einzelfall ist«, sagt eine Frau in einer leuchtenden Winterjacke an der Bushaltestelle. Die 37-Jährige ist vor eineinhalb Jahren mit ihrer Familie nach Illerkirchberg gezogen. Sie wartet auf ihre Tochter, die hier gleich von der Schule ankommen soll. Ob sie nun Angst um ihre Kinder hat? »Wenn man Kinder hat, hat man immer Angst.«
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