»Steve Shirley, hello?« Die britische Softwarepionierin Dame Stephanie Shirley meldet sich am Telefon noch immer mit einer männlich klingenden Abkürzung ihres Vornamens. Die hatte sie sich Anfang der 60er Jahre zugelegt, weil sie als Frau und Unternehmensgründerin sonst nicht ernstgenommen wurde.
Dass man die Multimillionärin, die einen Großteil ihres Vermögens in soziale Projekte investiert hat, ernst nehmen muss, zweifelt inzwischen niemand mehr an. Sie wurde zur Vorkämpferin von Frauenrechten und zu einer bedeutenden Förderin von Menschen mit Autismus, einer Entwicklungsstörung des Gehirns. An diesem Samstag wird sie 90 Jahre alt.
Am 16. September 1933 mit dem Namen Vera Buchthal als Tochter eines jüdischen Anwalts in Dortmund geboren, waren ihre Aussichten auf ein glückliches und erfolgreiches Leben nicht besonders gut. Der Nazi-Terror gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland zwang ihre Familie schon bald zu einer schweren Entscheidung: Sie schickten die kleine Vera gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Renate per Kindertransport von Wien aus auf die Reise in die Sicherheit nach Großbritannien.
Durch die Initiative wurden mehr als 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland und benachbarten Ländern kurz vor Kriegsbeginn in Sicherheit gebracht. Eltern und andere Verwandte blieben zurück. Oft war es ein Abschied für immer. Die Eltern von Dame Stephanie, die ihren Geburtsnamen später ablegte, überlebten den Holocaust. Trotzdem fand die Familie emotional nicht mehr zusammen. Zu sehr hatten sie sich auseinandergelebt. Auch die Beziehung der Eltern zerbrach.
Entfremdung der Familie
»Wir hatten Erwartungen voneinander aufgebaut, die sich in der Realität nicht verwirklichten«, sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur kurz vor ihrem Geburtstag. Das sei furchtbar für die Eltern gewesen und auch furchtbar für sie selbst, erinnert sie sich. Doch sie habe eine emotionale Beziehung zu ihren Pflegeeltern aufgebaut und sei »deren Kind in jeder Hinsicht außer der Geburt«.
Das Trauma des Entwurzeltwerdens sei die Quelle für ihre erstaunliche Widerstandsfähigkeit und Schaffenskraft, glaubt Dame Stephanie heute. Sie wollte unter Beweis stellen, dass es sich gelohnt hatte, ihr Leben zu retten. Etwa im Alter von zehn Jahren entdeckte sie ihre Begabung für Mathematik, die später zum Grundstein einer erstaunlichen Karriere werden sollte. Weil die Nonnen an der katholischen Mädchenschule, auf die sie ging, schon bald nicht mehr mithalten konnten, erhielt sie die Erlaubnis, an einer Schule für Jungs unterrichtet zu werden.
Dass sie sich in einem männlich dominierten Umfeld durchbeißen konnte, stellte Dame Stephanie später eindrucksvoll unter Beweis. Die Fächer, die sie interessierten, durfte sie als Frau an der Universität nicht studieren. Ein Job bei der Post bot ihr keine Aufstiegschancen. Daher bastelte sie bald an einer Karriere als selbstständige Software-Unternehmerin »Steve« Shirley. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Weil sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz damals gang und gäbe waren, machte sie es sich zum Ziel, in erster Linie Frauen zu beschäftigen. Oft waren es Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder nicht mehr in ihre frühere Beschäftigung zurückfanden, einige waren alleinerziehend. »Es war ein Weg, um die Ungleichheit auszugleichen«, sagt sie heute. Ausgerechnet ein Gesetz, das die Gleichberechtigung fördern sollte, machte dieses Modell Mitte der 70er Jahre jedoch schließlich illegal.
Trotzdem machten viele der Praktiken, die Shirley schon in den 60ern bei ihrer Firma Freelance Programmers einführte, später Schule: Die Berücksichtigung ethischer Prinzipien, die Übereignung von Firmenanteilen an die Mitarbeiterinnen und das Home Office sind nur einige Beispiele. Heute gehört das Unternehmen zur Sopra Steria Gruppe.
Soziales Engagement liegt ihr am Herzen
Trotz ihres Erfolgs blieb sie von Leid nicht verschont. Ihr Sohn Giles entwickelte eine Autismusstörung. Die Krankheit, über die in den 60er Jahren so gut wie nichts bekannt war, hatte zur Folge, dass er ein Drittel seines Lebens im Krankenhaus verbringen musste. Damit er die Kliniken verlassen konnte, gründete Shirley ein Heim für Menschen mit Autismuserkrankungen, dessen erster Bewohner ihr Sohn wurde. Weitere Organisationen folgten.
Im Alter von 60 entschied sie, sich ausschließlich wohltätigen Zwecken zu widmen, die sie fortan mit demselben unternehmerischen Eifer betrieb wie ihr Software-Unternehmen. Im Jahr 2000 erhielt sie den Ritterschlag, durfte sich fortan Dame nennen. Später wurde sie sogar in den »Order of the Companions of Honour« aufgenommen.
Obwohl sie sich einst geschworen hatte, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen und sich weigerte, Deutsch zu sprechen, ist sie inzwischen mit dem Land ihrer Geburt versöhnt. »Deutschland hat eindrucksvolle Anstrengungen unternommen, um seine Nazi-Vergangenheit zu bewältigen«, sagt sie. Ihre Autobiografie wurde inzwischen unter dem Titel »Ein unmögliches Leben« auch auf Deutsch veröffentlicht. Eine Entschädigung der Bundesrepublik für das erlittene Unrecht, die sie zunächst abgelehnt hatte, nahm sie später an - um sie an eine Hilfsorganisation für minderjährige Flüchtlinge weiterzugeben.
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