Wer die kleinste Haftanstalt Sachsens besichtigen möchte, muss nur an der Haustür eines schlichten Einfamilienhauses in Dresden klingeln.
Schleusen, Anmeldungen, Gitterstäbe - die Sicherheitsvorkehrungen eines gewöhnlichen Gefängnisses gibt es hier nicht. Der Türsummer brummt und Anke Söldner nimmt die Gäste in Empfang. »Was in einer JVA die Gitterstäbe sind, ist hier das soziale Gefüge«, sagt die Geschäftsführerin des Vereins für soziale Rechtspflege Dresden (VSR). »Die Menschen fühlen sich hier gut eingebunden und flüchten deshalb nicht.«
Laut Angaben des sächsischen Justizministeriums ist die Einrichtung bundesweit der erste Strafvollzug in freien Formen für Erwachsene. Auch der Soziologe Klaus Roggenthin spricht von etwas »vollkommen Neuem« für Deutschland. »Aus meiner Sicht ist das ein Trippelschritt, aber immerhin ein Schritt«, sagt der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe. Bislang gebe es nur zwei ähnliche Projekte in Leipzig und im baden-württembergischen Leonberg für jugendliche Straftäter. Die Heranwachsenden leben dort in Wohngemeinschaften und sollen so an ein Familienleben herangeführt werden, das sie zu Hause oft nicht hatten.
Projekt »Pier 36« in Dresden
Der Strafvollzug in freien Formen ist nicht zu verwechseln mit dem offenen Vollzug, wie das sächsische Justizministerium betont. Bei Letzterem dürfen Inhaftierte die Justizvollzugsanstalt (JVA) zwar regelmäßig verlassen, um etwa zur Arbeit zu gehen. Aber: Sie übernachten hinter Gittern. Im Dresdner Projekt »Pier 36« des VSR, das erst im vergangenen Jahr mit Mitteln aus dem Landeshaushalt gegründet wurde, ist das anders.
Inzwischen sind zwei Bewohner eingezogen, für zwei weitere wäre derzeit Platz. Auf den ersten Blick erinnert alles an eine WG: Den beiden Männern steht jeweils ein schlichtes kleines Zimmer zur Verfügung, es gibt ein Bad, eine Küche - aber auch ein Büro für die Sozialarbeiter. Tagsüber sind zwei von ihnen da, in der Nacht und am Wochenende einer.
Die Sozialarbeiter sorgen dafür, dass die Inhaftierten einen festen Tagesablauf haben. Morgens müssen sie sich bei den Betreuern zunächst anmelden, dann folgt ein vierstündiger Arbeitseinsatz. Theoretisch könnten die Männer auch außerhalb des Vollzugs arbeiten, doch reguläre Arbeit zu finden ist für die Inhaftierten nicht einfach. Zurzeit renovieren sie unter Anleitung die Wohnung.
Einstieg in Leben in Freiheit erleichtern
Durch die enge Betreuung sollen die Sozialarbeiter etwas leisten, was in gewöhnlichen Haftanstalten wegen fehlenden Personals schwierig ist: den Inhaftierten in ihren letzten Monaten vor der Entlassung den Einstieg in ein Leben in Freiheit erleichtern. »Nach langen Haftzeiten fällt es vielen schwer, sich selbst zu organisieren: Wir fangen damit an, noch einmal die Waschmaschine zu erklären und beantworten alltägliche Fragen«, sagt Söldner. Für einige sei es am Anfang eine Herausforderung, Freizeit zu haben.
Ziel sei es, sogenannte »subkulturelle Verstrickungen« aufzulösen, sagt Söldner. Anders gesagt: Die Männer sollen schon in der Haft stabile Kontakte zur Außenwelt aufbauen, damit sie nach der Entlassung nicht wieder in alte Muster geraten und alte - kriminelle - Bekanntschaften wieder aufnehmen.
»Strafvollzug sollte darauf ausgerichtet sein, dass die Menschen ihr Leben straffrei und für sie gelingend organisieren können«, sagt Soziologe Roggenthin. Faktisch sei das System Gefängnis aber nur auf Strafe ausgerichtet. »Um in der Freiheit zurechtzukommen, müssen die Inhaftierten die Freiheit ausprobieren dürfen.«
Aber Lockerungen wie Hafturlaub oder Besuche bei der Familie gebe es in regulären Gefängnissen nur sehr selten. »Wenn etwas passiert, fällt das sofort auf den Leiter der Anstalt und dann auf den Justizminister zurück. Das will niemand riskieren«, erläutert der Soziologe. Andere Länder wie Norwegen seien schon deutlich weiter und würden in den Gefängnissen echte Förderung betreiben, um Rückfallquoten zu senken.
Schwierig, Teilnehmende für das Projekt zu finden
Beim Dresdner Projekt mitzumachen sei Inhaftierten zu empfehlen, sagt Roggenthin. So sieht es auch einer der beiden Projektteilnehmer, der anonym bleiben will. »Ich war zuletzt im offenen Vollzug in der JVA und habe dort schon lange versucht, einen Sozialarbeiter zu bekommen, um mich auf das Ende der Haft vorzubereiten«, berichtet er. Zwei Monate lang habe sich niemand bei ihm gemeldet.
»Hier wird einem viel besser geholfen. Wenn ich Hilfe brauche, klopfe ich einfach an die Tür meines Sozialarbeiters«, sagt er. Und: Er habe ein hohes Aggressionspotenzial und fahre schnell aus der Haut. Der Betreuer helfe ihm dabei, nicht ausfallend zu werden und offizielle Verfahren besser im Griff zu haben.
Obwohl die Bedingungen deutlich lockerer sind als in einem normalen Gefängnis, ist es für den VSR relativ kompliziert, Projektteilnehmer zu finden. Infrage kommen nur Häftlinge, die strenge Sicherheitsanforderungen erfüllen. Bestimmte Probleme wie eine akute Sucht dürfen nicht vorliegen. »Es muss sicher sein, dass sie aus dem Vollzug in freier Form nicht fliehen würden«, sagt Söldner.
Noch keine Fluchtversuche
Bislang hat es im »Pier 36« noch keine Fluchtversuche gegeben. Axel Jeroma vom Verein Seehaus sagt, dass es bei der Einrichtung für Heranwachsende durchaus schon Abtrünnige gegeben habe. »Es ist aber immer glimpflich ausgegangen und meist haben sie nur versucht, zu ihren Familien oder zu Freunden zu gehen«, erzählt er. Wer einen Fluchtversuch hinter sich habe, müsse zurück in eine reguläre JVA.
Der VSR musste wegen der strengen Kriterien schon einmal ein ähnliches Projekt für jugendliche Häftlinge einstellen. Zu wenige Menschen seien für eine Aufnahme in Frage gekommen, sagt Söldner. Wie es mit dem Vollzug für Erwachsene weitergeht? Darauf dürften nun viele Experten aus der Häftlingshilfe schauen.
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