Ulm (dpa) - Es geht um Leben und Tod: Fünf Früh- und Neugeborene leiden in der Nacht zum 20. Dezember an akuter Atemnot. Ärzte, Schwestern und Pfleger der Ulmer Universitätsklinik kämpfen stundenlang um das Leben der kleinen Patienten.
Künstliche Beatmung, Bluttests. Eine Infektion? Krankenhauskeime? Es dauert viele Stunden, bis die Säuglinge wieder selbstständig atmen können. Nach zwei Tagen sind sie »stabil« und und können nach Hause entlassen werden. Fünf Wochen danach erfahren die Eltern, dass eine Krankenschwester versucht haben soll, die Kinder mit Morphium zu töten oder zumindest lebensbedrohlich krank zu machen.
Gegen die Frau sei Haftbefehl wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung erlassen worden, teilte der Leiter der Ulmer Staatsanwaltschaft, Christof Lehr, am Donnerstag mit. Im Spind der Frau in der Klinik auf dem Ulmer Michelsberg hätten Ermittler eine Spritze entdeckt. Der Inhalt: Muttermilch mit Morphium vermischt.
Die junge Frau - genauere Angaben zur Person machten die Ermittler aus taktischen Gründen zunächst nicht - sitzt seit Mittwochnachmittag in U-Haft. »Sie hat umfassende Angaben gemacht«, sagte Lehr. Aber den Tatvorwurf bestreite sie. Kann es sein, dass ihr jemand die Spritze untergeschoben hat? Niemand schließe das bislang aus. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, sagte Bernhard Weber, Chef einer 35-köpfigen Ermittlungsgruppe beim Ulmer Polizeipräsidium.
Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch das Uni-Klinikum - Wochen nach dem medizinischen Alarmfall. Erst am 16. Januar habe das Ergebnis von Urinuntersuchungen der Rechtsmediziner mit dem Nachweis des Morphiums vorgelegen, heißt es zur Begründung. Einen Tag später wurde dann Anzeige gegen unbekannt erstattet.
»Ich möchte allen versichern, dass wir hart daran arbeiten werden, verloren gegangenes Vertrauen der Menschen und der Stadt wiederzuerlangen«, sagte Professor Udo Kaisers, der Leitende Ärztliche Direktor des Uni-Klinikums. Er entschuldigte sich im Namen des gesamten Klinikums bei den Eltern, den Kindern und den Familien. »Wir sind alle tief erschüttert«, fügte Professor Klaus-Michael Debatin hinzu, Ärztlicher Direktor der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. »Wir müssen davon ausgehen, dass an unserer Klinik mit krimineller Energie ein Verbrechen verübt wurde.«
Es bleiben viele Fragen offen. Wie konnte es geschehen, dass eine Pflegekraft unbemerkt Morphium aus dem Giftschrank der Station entnehmen konnte? Dass die Verdächtige Zugang hatte, war wohl normal. »Sie gehörte ja zum Team«, sagte Debatin. Aber der gesetzlich vorgeschriebene Nachweis für die Entnahme fehlte. Und: Was könnte die Verdächtige dazu getrieben haben, wehrlose Säuglinge mit Morphium in eine lebensbedrohliche Situation zu bringen und womöglich deren Tod billigend in Kauf zu nehmen? Das Motiv sei bislang nicht bekannt, erklären die Ermittler. »Wir stehen noch weitgehend am Anfang«, sagte Weber.
Anhaltspunkte könnten sich vielleicht aus dem Studium eines anscheinend ähnlichen Falls im Uniklinikum Marburg ergeben. »Wir sind tatsächlich im Kontakt mit den dortigen Ermittlern, vielleicht helfen uns deren Erfahrungen«, sagte ein Sprecher der Ulmer Staatsanwaltschaft.
In Marburg hatte eine Kinderkrankenschwester zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 drei frühgeborenen Mädchen Beruhigungs- und Narkosemittel verabreicht, die ärztlich nicht verordnet worden waren. Ende November 2019 wurde sie wegen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Das Landgericht Marburg sah Geltungsdrang als ein Tatmotiv an. Die bei ihrer Verurteilung 30-Jährige habe den Tod der Kinder »um ihrer Selbstdarstellung willen in Kauf genommen«, befand das Gericht. Die Frau, die wegen schwacher Leistungen aufgefallen sei, habe sich als Retterin profilieren wollen.
Ob Ähnliches auch im Ulmer Fall eine Rolle spielte, ist jedoch noch völlig unklar. Zwischen Tat und Urteil lagen in Marburg mehr als drei Jahre. Wie lange es in Ulm dauern wird, ist nicht absehbar. Es sei denn, so heißt es in Ermittlerkreisen, »wir bekommen ein Geständnis, dann könnte es schnell gehen«.