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Oben ohne ist nicht nur eine Frage der Bequemlichkeit

Wer im Homeoffice arbeitet, verzichtet in der Regel auf die Business-Garderobe und macht es sich bequem. Manche Frauen lassen dann auch gern den BH weg - finden das angenehmer. Doch oben ohne außerhalb der eigenen vier Wände erregt heute immer noch die Gemüter.

BH-Boykott
Eine Frau trägt einen Büstenhalter (BH). Oben ohne außerhalb der eigenen vier Wände erregt heute immer noch die Gemüter. Foto: Christin Klose/dpa-tmn/dpa
Eine Frau trägt einen Büstenhalter (BH). Oben ohne außerhalb der eigenen vier Wände erregt heute immer noch die Gemüter. Foto: Christin Klose/dpa-tmn/dpa

PARIS. Ein BH gehört für die meisten Frauen so selbstverständlich in den Kleiderschrank wie Socken. Keine Frage - so scheint es für viele: Verlässt frau das Haus, geht zur Arbeit, trägt sie einen Büstenhalter.

Doch dass das ganz und gar nicht selbstverständlich so sein muss, wurde schon vor Jahrzehnten diskutiert. Damals wurde das Kleidungsstück von Feministinnen infrage gestellt - als Symbol der Unterdrückung und Fremdbestimmung. Und auch heute setzen einige Frauen wieder auf Verzicht - doch diese Entscheidung wird auch heute noch nicht als selbstverständlich akzeptiert.

Eine Umfrage aus Frankreich hat jüngst gezeigt, dass vor allem jüngere Frauen vermehrt auf den BH verzichten. Die Umfrage legt zumindest nahe, dass seit den Corona-Ausgangsbeschränkungen, die für viele Homeoffice statt Büro bedeuteten, etwas mehr Frauen ohne BH unterwegs sind als vorher. Freundinnen berichten Ähnliches.

»Offenbar ist es einigen Frauen zum Beispiel im Homeoffice ein Bedürfnis, keinen BH zu tragen - es ist angenehmer, bequemer«, sagt Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg. »Da kann man sich die Frage stellen: Warum wird dann in der Öffentlichkeit, auf Arbeit ein BH getragen?«

Im Netz wimmelt es von Frauen, die von ihrem Oben-ohne-Selbstversuchen erzählen - und das nicht erst seit Corona. Eine von ihnen war 2017 Hillary Brenhouse. »Es war keine politische Entscheidung - außer insofern, als dass alles, was eine Frau mit ihrem Körper macht, wenn sie sich nicht von jemand anderem diktieren lässt, was sie damit tun soll, eine politische Entscheidung ist«, schrieb sie im US-Magazin »The New Yorker«.

Ähnlich sieht es Voß: »Die ganze Debatte entsteht ja im Kontext einer sexistischen Gesellschaft. Das Oben-Ohne bei Frauen wird diskutiert - das Oben-Ohne bei Männern hingegen nicht.«

In der Umfrage aus Frankreich war fast die Hälfte der befragten Männer und Frauen der Ansicht, dass eine Frau ohne BH Gefahr läuft, belästigt oder angegriffen zu werden. Und jeder Fünfte ist sogar überzeugt, dass die Tatsache, dass eine Frau ihre Brustwarzen unter einem Oberteil zeigt, in Fällen sexueller Übergriffe als mildernder Umstand für den Angreifer gelten sollte. Das ist klassisches »Victim Blaming« - also Täter-Opfer-Umkehr.

Dass frau ganz und gar nicht frei ist in ihrer Entscheidung für oder gegen einen BH, musste Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete erfahren. Als sie im vergangenen Jahr zu einer Anhörung vor Gericht ohne BH erschien, ereiferte sich die italienische konservative Zeitung »Libero« und forderte mehr Anstand. Italienerinnen solidarisierten sich mit Rackete und riefen zum #freenipplesday in sozialen Netzwerken auf.

Die Kampagne Free the Nipple (deutsch etwa: Befrei die Brustwarze) gibt es bereits seit einigen Jahren. Sie prangert an, dass Frauen ihre Brustwarzen anders als Männer nicht in der Öffentlichkeit zeigen dürfen. Unterstützung gab es von Prominenten wie den US-Künstlerinnen Lena Dunham und Miley Cyrus.

Für die Feministin und Publizistin Gitti Hentschel ist das Thema Büstenhalter nicht neu. »In den Hochzeiten der zweiten Frauenbewegung in den 70er Jahren ging es bei der Frage, ob der BH ein Unterdrückungsinstrument ist oder nicht, hoch her«, erzählt die Mitbegründerin der »Tageszeitung« (taz). Sie habe damals zunächst einen BH getragen - später nicht mehr, auch weil sie es bequemer fand. »Und es hatte einfach auch was Befreiendes. Wenn mich jemand dann nur als Sexobjekt betrachtet, ist es nicht mein Problem«, so Hentschel.

Auch für Hentschel geht die BH-Frage weit über das Kleidungsstück an sich hinaus. »Keinen BH zu tragen, ist Ausdruck von befreiter Sexualität. Der Affront: Frauen definieren selbst, wie sie aussehen wollen«, sagt sie. »Ich finde es furchtbar, dass wir ähnliche Debatten, die wir in den 70er Jahren hatten, immer noch führen. Egal wie eine Frau rumläuft - niemand hat ein Recht, sie zu attackieren.« Die MeToo-Debatte über Sexismus und sexualisierte Gewalt habe noch einmal das Bewusstsein gestärkt, dass Frauen ständig mit Übergriffen lebten, so Hentschel. Wirklich besser werde es aber leider nicht.

Die Frage des Verzichts auf den BH hat noch eine andere Dimension - eine medizinische. Ist es gesünder, den BH wegzulassen - oder schadet es gar?

»Das Brustgewebe zu stützen, hat in erster Linie eine kosmetische Funktion, keine gesundheitliche«, erklärt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Es werde durch den BH nicht geschwächt, und das Weglassen des BHs stärke das Gewebe auch nicht. Mit einer großen Brust lange Zeit ohne BH zu verbringen, verursache bei vielen Frauen aber Rückenschmerzen. Er hat einen simplen Ratschlag: »Welche Variante für die Frau angenehmer ist, das muss sie selbst ausprobieren, wenn sie das möchte.« (dpa)

Umfrage Ifop

The Joy of not wearing a Bra - The New Yorker