Berlin (dpa) - Zum ersten Mal bundesweit: Obdachlose in Berlin sind in der Nacht auf Donnerstag gezählt worden. 2600 freiwillige Helfer durchstreiften auf festgelegten Routen die zwölf Bezirke, um Daten über die auf der Straße lebenden Menschen zu erheben.
Mit dem Wissen aus der sogenannten »Nacht der Solidarität« sollen bessere Hilfsangebote für diese Menschen geschaffen werden. Ergebnisse sollen am 7. Februar vorliegen.
»Ich hoffe sehr, dass wir hier auch einen Stein ins Rollen bringen für Deutschland«, sagte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) am Mittwochabend vor dem Start der von ihr angestoßenen Aktion. Sie hoffe auf Nachahmer in anderen Städten.
Die Freiwilligen, darunter viele Studenten, sollten die Obdachlosen nicht nur zählen, sondern nach Möglichkeit mit Hilfe eines Fragebogens mehr über sie erfahren: Es geht um Alter, Geschlecht, Herkunft und die Situation auf der Straße. Dabei gab es Leute, die nicht reden wollten, sagte Stefan Strauß, Sprecher der Senatssozialverwaltung, der Deutschen Presse-Agentur. »Es gab aber auch Obdachlose, die sehr ausführlich erzählt haben.«
Die standardisierten Worte zur Gesprächseinleitung auf einem Infoblatt für Helfer lauteten etwa: »Schlafen Sie auf der Straße?« und »Sind Sie einverstanden, dass wir Ihnen jetzt unsere Fragen stellen?« Wer nicht gefunden werden wolle, den werde man auch nicht suchen - niemand solle von der Straße vertrieben werden, betonte die Sozialverwaltung.
Aufgefallen sei unter anderem, dass wenige Menschen in Hinterhöfen übernachteten, sagte Strauß. Viele Obdachlose nächtigten dafür unter Brücken - was auch mit dem schlechten Wetter zusammenhängen dürfte. Zwischenfälle gab es ersten Erkenntnissen zufolge nicht.
Ursprünglich hatten sich etwa 3700 Freiwillige zum Zählen angemeldet. Da aber damit gerechnet worden war, dass weniger kommen würden, konnte die Zählung trotzdem wie geplant laufen, hieß es. Lediglich zwei von 617 Zählräumen seien letztlich nicht besetzt gewesen. Ansonsten wurde nach Angaben von Strauß jede Straße in der Stadt abgelaufen. »Letztlich haben wir in einer Nacht erreicht, die obdachlosen Menschen in Berlin zu zählen«, sagte der Sprecher.
Berlin folgt mit dem Pilotprojekt dem Vorbild von Städten wie Paris und New York. Bisher gibt es zur Lage in der deutschen Hauptstadt lediglich grobe Schätzungen: Angenommen werden 6000 bis 10.000 Obdachlose, bei vermutlich steigender Tendenz in den vergangenen Jahren. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben bundesweit 41.000 Menschen im Laufe eines Jahres ohne jede Unterkunft auf der Straße.
Sie gehe zwar nicht davon aus, dass tatsächlich sämtliche Obdachlose in der Stadt gezählt werden könnten, schränkte Breitenbach ein. Am Ende sei man dennoch einen Schritt weiter. Ziel sei eine langfristige Statistik. »Das wird nicht die letzte Zählung sein.« Alle anderthalb bis zwei Jahre etwa sei eine Wiederholung denkbar.
»Ich merke, dass es jedes Jahr mehr Obdachlose gibt, auch hier im reichen Charlottenburg. Ihnen soll geholfen werden«, sagte ein 50-Jähriger, der sich als Freiwilliger gemeldet hat. Für die Teams galten Regeln für den Umgang mit den Menschen auf der Straße: nicht aufwecken, nicht duzen, nicht drängen. Keine Fotos, keine Posts. Beim Kontakt mit aggressiven Menschen: sofort weggehen.
Die Aktion erntete nicht nur Zuspruch: Die Zählung stelle keine direkte Hilfe dar, auch mehr Wohnungen würden damit nicht geschaffen. »Wohnungen statt Zählungen«, war der Titel einer Protestkundgebung. Unter Obdachlosen schienen die Meinungen im Vorfeld auseinanderzugehen - während manche die Zuwendung schätzten, bangten andere um ihre Verstecke.
Wie belastbar die Daten ausfallen, ist offen. Er warne vor zu hohen Erwartungen, erklärte Oliver Bürgel von der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. So gut und wichtig die Zählung sei, bleibe sie doch erst einmal »eine unvollständige Momentaufnahme«.
Zwar wird die Zählung wissenschaftlich begleitet, die Umsetzung aber liegt letztlich in großen Teilen in der Hand von Laien. Eine Begleitung der Zählteams durch Journalisten in der Nacht war nicht erwünscht - zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Obdachlosen, wie es hieß.
Misstrauisch, dass Zahlen um der guten Sache wegen nach oben korrigiert werden, zeigte sich die Verwaltung vorab nicht. »Wir gehen davon aus, dass Obdachlose eher übersehen werden als dass Helfer sie dazuzählen«, sagte Sprecherin Karin Rietz.
Überraschungen sind nicht ausgeschlossen: Der »taz« sagte ein Mitarbeiter der Pariser Sozialverwaltung, dass man dort bei bisherigen Zählungen einen Frauenanteil von 12 beziehungsweise 14 Prozent festgestellt habe. Vorher sei die staatliche Statistik von zwei bis vier Prozent weiblichen Obdachlosen ausgegangen.