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Martin Walser setzte den schwachen Helden ein Denkmal

Martin Walser nahm in seinen Romanen die »kleinen Leute« ebenso liebevoll wie schonungslos offen ins Visier. Genauso streitlustig prägte er politische und gesellschaftliche Debatten in Deutschland.

Martin Walser ist tot
Der Schriftsteller Martin Walser blickt vor seinem Haus in Nußdorf in die Ferne. Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Foto: Patrick Seeger/DPA
Der Schriftsteller Martin Walser blickt vor seinem Haus in Nußdorf in die Ferne. Martin Walser ist im Alter von 96 Jahren gestorben.
Foto: Patrick Seeger/DPA

Ein »großer Schriftsteller kleiner Leute« - so ist Martin Walser einmal genannt worden. Der Erzähler, der am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren wurde, zeichnete oft ein ebenso schonungslos-sarkastisches wie liebevolles Bild des scheiternden Durchschnittsbürgers mit dessen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten. Sein Werk umfasst zwei Dutzend Romane, zahlreiche Novellen und Geschichtensammlungen, eine Vielzahl von Theaterstücken, Hörspielen und Übersetzungen sowie Aufsätze, Reden und Vorlesungen. Bis ins hohe Alter hinein brachte der Schriftsteller immer wieder neue Bücher heraus - erst »Das Traumbuch« im März 2022. Am Freitag starb Walser im Alter von 96 Jahren, wie der Rowohlt Verlag am Abend mitteilte.

Durchbruch mit »Ehen in Philippsburg«

Seinen ersten Erzählband »Ein Flugzeug über dem Haus« veröffentlichte Walser 1955. Im selben Jahr erhielt er den Preis der »Gruppe 47«. Der Durchbruch gelang ihm zwei Jahre später mit seinem ersten Roman »Ehen in Philippsburg«, der mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde - und ihm eine Existenz als freier Autor ermöglichte. 1978 schrieb er mit der Novelle »Ein fliehendes Pferd« nach einhelliger Kritikermeinung ein Meisterwerk, das 2007 fürs Kino verfilmt wurde.

Weitere Würdigungen waren 1962 der Gerhart-Hauptmann-Preis, 1981 der Büchner-Preis und 1998 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Nur der Literatur-Nobelpreis, für den er immer wieder gehandelt wurde, blieb ihm zu Lebzeiten verwehrt.

Walsers Bücher handeln oft von stets wiederkehrenden Figuren - wie Anselm Kristlein in der Roman-Trilogie »Halbzeit« (1960), »Einhorn« (1966) und »Der Sturz« (1973) oder Gottlieb Zürn in »Das Schwanenhaus« (1982), »Jagd« (1990) und »Der Augenblick der Liebe« (2004). Als einer der ersten Autoren legte Walser mit »Die Verteidigung der Kindheit« (1991) einen Roman zur Wiedervereinigung vor, 1998 dann einen autobiografischen Roman »Ein springender Brunnen«.

Unterschiedliches Echo bei der Kritik

Ein unterschiedliches Echo bei der Kritik fanden »Der Lebenslauf der Liebe« (2001) und »Der Augenblick der Liebe« (2004). Das galt auch für den Roman »Angstblüte« (2006), in dem er sich mit den Themen Geld und Altern auseinandergesetzt hat. In »Ein liebender Mann« beschrieb er 2008 die aussichtslose Liebe des alternden Goethe zur jungen Ulrike von Levetzow. 2012 erschienen zudem der Briefroman »Das dreizehnte Kapitel« sowie 2013 »Die Inszenierung«. Zuletzt veröffentlichte Walser im März 2022 »Das Traumbuch« im Rowohlt-Verlag.

Zum vielschichtigen Werk des Autors gehören auch Theaterstücke wie »Eiche und Angora« (1962) sowie Lyrik, Essays und Aufsätze. Viele seiner Gedanken und Gefühle finden sich auch in »Meßmers Gedanken« (1985), »Meßmers Reisen« (2003) und »Meßmers Momente« (2013), in den »Daseinsprotokollen« seines Alter Ego Herbert Meßmer.

Wortgewaltig und durchaus streitlustig

Walser äußerte sich zudem gern wortgewaltig und durchaus streitlustig zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen. Seine Gedanken wurden mitunter als Provokation empfunden, die stets ein großes Medien-Echo auslösten. »Das mag falsch sein oder lächerlich, aber es gibt immer wieder Themen - um es ein bisschen metaphorisch zu sagen - da kann ich nicht schlafen, wenn ich mich nicht dazu verhalten habe«, sagte Walser einmal.

Er habe zugeben müssen, dass er sein sogenanntes berufliches Leben in der Sphäre des Rechthaben-Müssens verbracht habe, sagte der Schriftsteller einmal im Interview. »Ich kann das nachträglich weder bereuen, noch begründen. Ich habe zwar auch Literatur und Philosophie studiert. Und trotzdem war ich dem Aktuellen ausgesetzt und dem Zwang, reagieren zu müssen. Obwohl ich mir doch mit Franz Kafka hätte sagen müssen: Ist doch alles unwichtig. Aber es nützte nichts.«

Walser wohnte bis zuletzt in Überlingen

Seiner Heimat blieb Walser stets treu. Er lebte viele Jahre mit seiner Frau Käthe im Überlinger Ortsteil Nußdorf. Bis zuletzt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers - mit traumhaftem Blick über den Bodensee. »Meine Muse ist der Mangel«, sagte er einmal. Auf die Unvollkommenheit der Welt müsse er mit Schreiben reagieren. Das tat er bis zuletzt mit der Hand auf Papier - obwohl ihn zuletzt, wie er 2021 dem »Spiegel« sagte, langsam sein Gedächtnis verließ.

Stolz war er auf die vier Töchter, die alle künstlerisch tätig sind - drei als Schriftstellerinnen, eine als Schauspielerin. »Dass die Töchter ausdrucksfreudig und ausdrucksbegabt sind, ist eine große Freude«, sagte Walser einmal. »Vielleicht sogar die einzige reine Freude in meinem Leben«.

Für seine Notizen hat der Schriftsteller schon zu Lebzeiten einen Ort zur Aufbewahrung gefunden. Seit März 2022 befinden sich die rund 75.000 handschriftlichen Seiten im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar - in Gesellschaft von Manuskripten von Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Hermann Hesse.

© dpa-infocom, dpa:230728-99-584727/2