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Land der Morde - USA kämpfen mit grassierender Waffengewalt

Jeden Tag fahren Dealer aus den waffenfreundlichen US-Südstaaten Richtung Norden. Und in Großstädten wie Chicago und New York steigt die Zahl der Morde. Die tödliche Gewalt trifft ohnehin Benachteiligte.

Land der Morde - USA kämpfen mit grassierender Waffengewalt
Ein Mann mit mehreren Schusswaffen nimmt an einer Demonstration für das Recht teil, Waffen zu besitzen. Foto: Genna Martin
Ein Mann mit mehreren Schusswaffen nimmt an einer Demonstration für das Recht teil, Waffen zu besitzen.
Foto: Genna Martin

»Du bist zu spät. Ich habe hier viel zu tun«, blafft Jackie Rowe-Adams durch das vollgekramte Büro, das der Besucher durch eine mit Jalousien verhangene Glastür in Harlem betritt.

»Harlems Mothers Save« heißt ihre Organisation, die sich um Opfer von Schusswaffen im New Yorker Stadtteil kümmert und Gewalt verhindern will. Diese jedoch grassiert zunehmend. Nicht nur in Harlem und New York, in vielen Städten der USA. Längst redet Präsident Joe Biden von einer »Epidemie der Waffengewalt«. Und Rowe-Adams - die zwei Söhne durch Schüsse verloren hat - hat mehr Arbeit denn je.

Schockierende Bilanz

Die schockierenden Zahlen in den Vereinigten Staaten sprechen dabei für sich: 488 Morde verzeichnete die New Yorker Polizeibehörde NYPD im vergangenen Jahr in der Ostküstenmetropole. Das ist der höchste Wert seit einem Jahrzehnt. 1500 Schießereien markierten dabei den Höchststand seit 15 Jahren - eine Verdopplung in nur zwei Jahren. In Chicago wurden den Behörden zufolge sogar 797 Menschen ermordet, was seit einem Vierteljahrhundert nicht passiert sei.

Jackie Rowe-Adams steht im Kampf gegen die Waffengewalt heute an vorderster Front. Bilder im Büro der 73-Jährigen zeigen sie Arm in Arm mit New Yorks Bürgermeister Eric Adams oder mit drohend erhobenem Zeigefinger vor dem mächtigen Boss des Waffen-Lobbyverbandes NRA, Wayne LaPierre. Rowe-Adams ist gegen die Gewalt in den Krieg gezogen, weil sie vor Jahrzehnten selbst zum Opfer wurde.

Es fühle sich wie gestern an, dass sie ihren Sohn Anthony verloren habe, erzählt sie. Der damals 17-Jährige sei in einem Lebensmittelgeschäft in Harlem gewesen, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Eine Gruppe von Männern habe Streit mit Anthony gesucht. Einer sagte: »Wir sollten ihn erschießen.«

Kampf gegen die Gewalt

Sie folgten dem jungen Mann die Straße entlang zum Haus seiner Großeltern. »Und als er auf die Treppe stieg, da haben sie auf ihn geschossen«, erzählt Rowe-Adams mit der gefassten Stimme, die erkennen lässt, wie oft sie diese Geschichte bereits erzählt hat. Sie fährt fort: 16 Jahre später sei auch ihr zweiter Sohn - Tyrone - gestorben. Bei einem Überfall auf offener Straße. Tyrone wurde 27.

Das war der Moment, in dem Rowe-Adams handelte und »Harlem Mothers Save« gründete. Heute kämpft sie mit über 50 Eltern, Sozialarbeitern, Trauerbegleitern und Psychologen gegen die Gewalt in dem Stadtteil im Norden Manhattans. Und sie wird dringend gebraucht: »Es ist das Schlimmste! Waffengewalt hat unsere Stadt, unseren Staat und unsere Gemeinden erobert«, schimpft sie.

Ein Hauptgrund seien die vielen illegalen Pistolen und Gewehre. Für diesen Zufluss an Waffen gibt es einen Namen: die »Eiserne Pipeline«. Der Soziologe Gregg Lee Carter definierte den Begriff in seinem Buch »Schusswaffen in der amerikanischen Gesellschaft« als »Bewegung und Handel mit Waffen aus Staaten mit weniger restriktiven Waffenkontrollen in Staaten mit strengeren Vorschriften«.

Steigende soziale Angst

Jeden Tag fahren in den USA Dealer aus den waffenfreundlichen Südstaaten in Richtung Norden, oft auf der Interstate 95. Sie biegen in Baltimore, Philadelphia oder New York ab und verkaufen ihre illegale Ladung auf den holprigen Straßen der Brennpunkte. Besonders viele Schusswaffen wurden 2020, zu Beginn der Covid-Pandemie inmitten steigender sozialer Angst und finanzieller Unsicherheit, gekauft.

Laut der Agentur »Small Arms Analytics« waren es im ersten Corona-Jahr 23 Millionen - um die 60 Prozent mehr als 2019. Dazu kam Experten zufolge, dass es vielen Kindern wegen der Schulschließungen an Struktur fehlte und sie anfälliger für Verbrechen wurden.

Präsident Biden scheint dem Problem derweil ein Stück weit machtlos gegenüberzustehen. Zuletzt hatte er bei seiner Ansprache zur Lage der Nation mit dem Finger auf die Abgeordneten gezeigt und gesagt: »Ich fordere den Kongress auf, bewährte Maßnahmen zur Verringerung der Waffengewalt zu verabschieden.«

Schmuggelrouten trocken legen

Biden will Schmuggelrouten trocken legen und wettert gegen die mächtige US-Waffenlobby. Sie habe ihr Geschäft zur einzigen Industrie gemacht, die nicht verklagt werden kann. »Stellen Sie sich vor, wir hätten das so mit den Zigarettenherstellern gemacht, wo zum Teufel wären wir?«, meinte er neulich in New York. Passiert ist trotzdem: wenig.

New Yorks Bürgermeister Adams ließ bei derselben Veranstaltung mit dem Präsidenten durchblicken, dass es mit ein paar Gesetzen nicht getan ist: »Wir brauchen - wie ich schon sagte - eine Reaktion wie nach dem 11. September, um den inländischen Terror anzugehen, der gegenwärtig das Land durchdringt.« Heißt: Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssten umgekrempelt, die Strafverfolgung über Staatsgrenzen hinweg neu auf die Gefahr eingestellt werden. 

Doch ein Ruck wie nach den Anschlägen 2001 scheint unmöglich, wenn weite Teile des extrem polarisierten Landes - Bürger wie konservative Politiker - Waffenbesitz als Grundrecht feiern. Selbst über 40.000 Tote pro Jahr durch Schusswaffen bringen sie von dieser Haltung nicht ab. Zum Vergleich: In Deutschland waren es vergangenes Jahr 826.

Mehr Polizisten

Und wie fast alles in den USA trifft auch die Gewalt die strukturell Benachteiligten der Gesellschaft besonders hart - also vor allem Viertel wie Harlem oder die Bronx mit einem hohen Anteil von Nicht-Weißen. Laut der Denkfabrik Brookings geht es vor allem um Viertel, in denen Armut, Trennung von Menschen nach Hautfarben und systematische Unterfinanzierung zusammenkämen.

In den betroffenen Stadtteilen in Chicago, Washington oder New York sollen nach dem Willen einiger Regierenden mehr Polizisten für eine Beruhigung sorgen. Doch dort, wo viele Bewohner Rassismuserfahrungen gemacht haben, ist das Misstrauen gegenüber Beamten nicht erst seit der »Black Lives Matter«-Bewegung groß.

Auch hier verkompliziert ein Dilemma das Problem: Den Rufen der liberalen Kräfte nach einer Verschlankung der Polizei steht eine gefühlte Unsicherheit entgegen, die ihrerseits Forderungen nach einer Stärkung der Cops nach sich zieht. Auch Rowe-Adams sieht die Polizei als zentral: »Black Lives Matter redet nicht über den wahren Kern des Problems: dass wir uns gegenseitig töten. Wir brauchen die Polizei. Ohne die Polizei können wir nicht viel machen.«

Tägliche Tragödien

Zuletzt hatten in New York Taten abseits der Brennpunkte für Schlagzeilen gesorgt und drohen, das Image der Stadt zu beschädigen: Schüsse nahe des Times Square oder zuletzt in einer U-Bahn in Brooklyn. Dass die Sicherheitslage in den meisten Stadtteilen dabei gut ist - und um Welten besser als noch vor einigen Jahrzehnten, gerät dabei oft in Vergessenheit.

Über tägliche Tragödien wie die von Rowe-Adams' Söhnen Tyrone und Anthony schreiben die Zeitungen nicht. Trotzdem sieht sie die Aufmerksamkeit positiv. Präsident, Bürgermeister, die Polizei - alle arbeiteten mit »Harlems Mothers Save« daran, um solche Schicksale künftig zu verhindern. »Ich habe Hoffnung«, sagt sie - und stürzt sich ins nächste Telefonat.

© dpa-infocom, dpa:220505-99-166210/4