Die Mutter ist tot, ihre Jungen können alleine nur wenige Tage überleben: Mit dem Ende der Sommerferien in Italien sorgt das Schicksal einer Braunbärenfamilie aus einem Nationalpark in den Abruzzen landesweit für Aufregung. Die Bärenmutter wurde von einem Jäger erschossen, der sich auf seinem Grundstück in dem mittelitalienischen Dorf San Benedetto dei Marsi angeblich bedroht fühlte. Jetzt läuft eine große Suche nach den erst vier oder fünf Monate alten Bärenkindern: Solo kommen sie in freier Natur noch nicht durch.
Die Mutter namens Amarena - also Schwarzkirsche, ein Wort, das man in Deutschland eher aus Eisdielen kennt - war im Parco Nazionale d'Abruzzo Lazio e Molise und darüber hinaus eine kleine Berühmtheit. Seit Jahren spazierte sie immer wieder durch die Dörfer, auch mit ihren jüngsten Sprösslingen. Von den Ausflügen gibt es nette Filmchen, die auf YouTube hunderttausendfach angeklickt wurden. Zur Gefahr für Menschen wurde die Bärin nach Auskunft der Parkverwaltung all die Jahre nie.
Wurde die Bärin grundlos getötet?
Trotzdem wurde Amarena am Donnerstag am Rande des Parks leblos aufgefunden. Alle Viere von sich gestreckt, mit blutigen Schusswunden. Der Schütze stellte sich selbst: ein Mann namens Andrea Leombruni, 56 Jahre alt, Jäger und Trüffelsammler. Seine Waffe besitzt er legal. Bei der Vernehmung gab er an, mit der Schrotflinte auf den Boden gezielt zu haben, ein einziges Mal nur, aus Angst. Trotzdem leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein - wegen des Verdachts, das Tier grundlos und grausam getötet zu haben.
Die Stimmung ist nun sehr aufgeheizt. Der italienischen Nachrichtenagentur Ansa berichtete Leombruni sogar von Morddrohungen. »Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen und nichts gegessen. Sogar meine 85 Jahre alte Mutter rufen sie an. Die ganze Familie steht am Pranger.« An eine Häuserwand in der Nachbarschaft wurde »Giustizia« (»Gerechtigkeit«) geschrieben. Eine Demonstration unter dem Titel »Gerechtigkeit für Bärenmama Amarena« verboten die Behörden.
Die Bärenjungen können alleine nicht überleben
Noch mehr als die Frage, ob Leombruni eine Strafe bekommt, beschäftigt die Nation jedoch das Schicksal der noch namenlosen Jungtiere. Der Nationalpark versucht seit Tagen, mit mehr als einer Hundertschaft an Helfern die beiden ausfindig zu machen - bis Montagmittag ohne jeden Erfolg. Auch mehrere Fallen mit Ködern, die mit dem Geruch der Mutter imprägniert waren, brachten nichts. Erschwert wird die Fahndung dadurch, dass die Tiere in der Regel erst mit Einbruch der Dunkelheit aktiv werden.
Nach Meinung von Experten können die kleinen Bären allein nur wenige Tage überleben, weil sie sich nicht ausreichend Nahrung besorgen können. Bislang wurden sie noch gestillt. Zudem gibt es Sorgen, dass sie von Wölfen oder streunenden Hunden getötet werden könnten. »Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Suche schwieriger«, sagt Dorfbürgermeister Antonio Cerasani. Die Hoffnung ruht nun auch darauf, dass die beiden zufällig von Passanten entdeckt werden. Oder sich vielleicht von sich aus in eines der Dörfer wagen.
Aus Sicht der Parkverwaltung ist der Tod von Amarena auch deshalb ein großer Verlust, weil sie eine besonders fruchtbare Bärin mit viel Nachwuchs war. Bei den Tieren im Abruzzen-Park handelt es sich um »Marsische Braunbären«, eine seltene Unterart, von denen dort noch etwa 60 zuhause sind. Vor einigen Jahren waren es noch hundert.
In Italien gibt es immer wieder Debatten über den Umgang mit Bären, die Menschen in den Bergen nahekommen. Im April wurde in der Region Trentino ein 26-jähriger Jogger von einer Bärin angegriffen und getötet. Zwischenzeitlich beschlossen die Behörden schon, das Tier töten zu lassen. Möglicherweise wird es nun aber in ein Bärenreservat nach Rumänien umgesiedelt. Die Entscheidung soll dieses Jahr fallen.
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