Erst kürzlich erntete Disney für seine digital erweiterte Realverfilmung des hauseigenen Zeichentrick-Klassikers »Pinocchio« vernichtende Kritiken. Schon kommt der nächste Film über die berühmte menschliche Holzpuppe, deren Abenteuer erstmals vor rund 140 Jahren in einem italienischen Wochenblatt veröffentlicht wurden. Der mexikanische Erfolgsregisseur Guillermo del Toro (»Pans Labyrinth«, »Hellboy«) hat »Pinocchio« mit viel Aufwand und Liebe zum Detail als emotionalen Stop-Motion-Film inszeniert. Er startet am 9. Dezember bei Netflix.
Für das Projekt tat del Toro sich mit Animationsspezialist Mark Gustafson zusammen, der unter anderem mit Wes Anderson »Der fantastische Mr. Fox« drehte. Als Disney sein »Pinocchio«-Remake ankündigte, waren del Toro und Co-Regisseur Gustafson mit ihrer Produktion längst voll im Gange. »Diese Dinge liegen nicht in unserer Kontrolle«, sagt del Toro in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur in London. »Wir waren außerdem zuversichtlich, dass unsere «Pinocchio»-Version so radikal anders ist als alle anderen Versionen, die je gemacht wurden, dass es da keine Überschneidung geben würde.«
Leicht düsterer Musicalfilm
Guillermo del Toro's leicht düsterer Musicalfilm ist näher an Carlo Collodis Geschichtensammlung »Die Abenteuer des Pinocchio«, ohne sich davon begrenzen zu lassen. Die Filmhandlung spielt in den späten 1920er Jahren im faschistischen Italien von Ministerpräsident Benito Mussolini. Dort stürzt Meister Geppetto in eine schwere Krise, nachdem sein geliebter Sohn Carlo von einer Fliegerbombe getötet wird. Im Alkoholrausch fällt Geppetto einen Baum und schnitzt daraus eine Holzpuppe. Dank der Hilfe einer guten Fee wird sie über Nacht zum Leben erweckt.
Eine Grille namens Sebastian J. Cricket, selbst ernannter Autor und Erzähler der Geschichte, soll als gutes Gewissen über den chaotischen und rebellischen Pinocchio wachen. Das aber ist gar nicht so leicht, denn der bösartige Graf Volpe lockt den Jungen aus Holz in seinen Wanderzirkus. Und dann soll Pinocchio - dem natürlich eine lange Nase wächst, wenn er lügt - auch noch mit anderen Kindersoldaten für Mussolini in den Krieg ziehen.
Bei der Stop-Motion-Filmtechnik werden einzelne statische Bilder aneinandergereiht. »Es ist eine Kunstform, die ständig vom Aussterben bedroht ist, und wir wollten sie am Leben erhalten«, sagt Oscar-Gewinner del Toro (»Shape Of Water«). Doch das brauchte viel Zeit. Jahrelang haben er, Gustafson und ihr Team an »Pinocchio« gearbeitet. Da konnte eine einzige 30-sekündige Szene auch mal drei Monate Arbeit in Anspruch nehmen.
Jede der urigen Figuren - Pinocchio ist nicht unbedingt das, was man als niedlich bezeichnen würde - wurde als Puppe in verschiedenen Größen erschaffen und dann in unzähligen Posen und Situationen in dafür gebauten Miniaturkulissen fotografiert. Die Idee dahinter: »Pinocchio würde dadurch so real sein, wie die menschlichen Puppen, die die Menschen spielen«, erklärt del Toro. »Es war notwendig und es war großartig, die Geschichte einer Puppe mit Puppen zu erzählen.«
Im positiven Sinne altmodischer Look des Films
Nur wenige Elemente kommen aus dem Computer. Sie sind aber bewusst so gestaltet worden, dass sie wie Imitate wirken, um den im positiven Sinne altmodischen Look des Films nicht zu beeinträchtigen. »Wenn du den Himmel siehst, sieht er wie ein Himmel aus Wattebällchen aus«, erklärt del Toro. »Wenn du Wasser siehst, wirkt es wie Gelatine oder Plastik.«
In der englischsprachigen Fassung leihen unter anderem Ewan McGregor, Ron Pearlman, Tilda Swinton und Christoph Waltz den Charakteren ihre Stimmen. Die wunderbare Musik stammt vom französischen Filmkomponisten Alexandre Desplat. Der zweifache Oscar-Gewinner (»The Grand Budapest Hotel« und »The Shape Of Water«) darf im kommenden Jahr wohl mit seiner zwölften Nominierung bei den Academy Awards rechnen - wie auch Guillermo del Toro, der in der Kategorie Animationsfilm bereits als Favorit gehandelt wird.
Visuell und musikalisch außergewöhnlich
Sein »Pinocchio« ist visuell und musikalisch ein außergewöhnlicher Animationsfilm. Und auch inhaltlich setzt er andere Schwerpunkte als Disney, Dreamworks und Co. es üblicherweise zu tun pflegen. »Die Themen sind Leben, Liebe und Verlust - und Ungehorsam als eine Tugend«, sagt der Filmemacher. Ein klarer Unterschied zu anderen Versionen, in denen Pinocchio lernen muss, sich gut zu benehmen und selbstlos zu handeln. Im Buch werden er und sein Freund Candlewick in Esel verwandelt, hier werden sie zu Kindersoldaten - die Botschaft ist klar. Auf die Frage, ob er seinen »Pinocchio« eher für Kinder oder für Erwachsene gemacht habe, winkt del Toro ab. »Für mich.«
Im Fokus des Films stehen zudem die komplexen Vater-Sohn-Beziehungen, nicht nur die von Gepetto und Pinocchio, sondern auch des faschistischen Podesta zu seinem Sohn Candlewick und die des Zirkusbesitzers Volpe zu seinem Affen Spazzatura. »Mein Vater hat in meiner gesamten Filmografie eine große Rolle gespielt«, so del Toro, dessen Vater 2018 starb. »Seit vielen Jahren versuche ich diese Beziehung zu ergründen - und meine eigene Rolle als Vater.«
Weil die Rechte bei Netflix liegen, wurde »Pinocchio« nur für kurze Zeit im Kino gezeigt, bevor er jetzt auf der Streamingplattform zu sehen ist. Für den kleinen Bildschirm ist Guillermo del Toros Film beinahe zu schade. »Pinocchio« ist visuell großartig, zutiefst berührend und einfach wunderschön - ein filmisches Meisterwerk.
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