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Geboren unter Trümmern - Ein Jahr nach den Beben in Syrien

Sie war der Hoffnungsfunke des Bebens in Syrien: Afraa kam unter Trümmern zur Welt. Nun feiert sie ihren ersten Geburtstag. Doch die Narben der Vergangenheit sitzen tief - besonders bei den Jüngsten.

Wunderbaby
Adoptivvater Chalil Sawadi betrachtet Afraa wenige Tage nach ihrer Geburt. Das kleine Mädchen wurde unter Trümmern des Erdbebens in Syrien am 6. Februar 2023 geboren. Foto: Ghaith Alsayed/DPA
Adoptivvater Chalil Sawadi betrachtet Afraa wenige Tage nach ihrer Geburt. Das kleine Mädchen wurde unter Trümmern des Erdbebens in Syrien am 6. Februar 2023 geboren.
Foto: Ghaith Alsayed/DPA

Als »Wunderbaby« ging sie durch die Medien: Während ihre ganze Familie bei dem verheerenden Erdbeben im Nordwesten Syriens Anfang 2023 ums Leben kam, war Afraa die einzige, die überlebt hat. Als Retter sie aus den Trümmern in einem Haus in Dschindires nahe der türkischen Grenze zogen, war sie noch durch die Nabelschnur mit ihrer Mutter verbunden. Das ist jetzt ein Jahr her. »Ihr Geburtstag erinnert uns an Schrecken und an unsere verlorenen Familienmitglieder«, sagt Afraas Adoptivvater Chalil Sawadi.

Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei Beben der Stärke 7,7 und 7,6 die Südosttürkei und Teile Syriens. Rund 60.000 Menschen starben, ein Großteil davon in der Türkei. Genaue Angaben zu den Opfern aus dem Bürgerkriegsland Syrien sind schwer zu ermitteln. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte kamen bei den Beben in ganz Syrien rund 6800 Menschen ums Leben.

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass rund 8,8 Millionen Menschen in Syrien von den Auswirkungen der Beben betroffen waren. Mehr als 11.000 wurden verletzt. Tausende mussten ihre Heimatorte verlassen. Zudem tobt seit 2011 ein blutiger Bürgerkrieg im Land, bei dem laut Schätzungen der Vereinten Nationen mehr als 300.000 Menschen ums Leben gekommen sind.

Besonders Kinder sind betroffen

Auch ein Jahr nach der Katastrophe sind die Folgen in den betroffenen Gebieten noch immer deutlich zu spüren. »Nach den Beben waren besonders Kinder Schutzrisiken ausgesetzt«, sagt Lorena Nieto vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bei einem Besuch eines Rehabilitationszentrums nahe Afraas Heimatort Dschindires.

Viele Kinder seien von ihren Familien getrennt worden. Sowohl Eltern als auch Kinder selbst seien noch immer auf der Suche nach Informationen zu ihren vermissten Angehörigen. »Ein anderes Problem ist Kinderarbeit«, sagt Nieto. Familien hätten oft nicht mehr genug Einkommen zum Überleben. Die Gefahr, dass Kinder dabei ausgebeutet würden, sei noch immer sehr groß. Auch Menschenhandel mit Kindern aus den Gebieten stelle eine große Gefahr dar.

Von Tante und Onkel adoptiert

Afraa wurde nach ihrer Geburt von ihrer Tante und deren Mann adoptiert. Die zuständigen Behörden ließen damals einen DNA-Test machen, um nachzuweisen, dass die Tante tatsächlich mit der Kleinen verwandt ist. Die neuen Adoptiveltern gaben dem Mädchen auch einen neuen Namen. Afraa sei der Name der verstorbenen Mutter. »Ich behandele sie wie mein eigenes Kind«, sagt ihr Adoptivvater. Doch die Situation im vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien mache es ihm nicht leicht. Neben Afraa müsse er auch noch für seine sieben leiblichen Kinder sorgen. Einen dauerhaften Job hat er nicht.

»Wir hoffen, dass wir Afraa genügend Liebe geben können, um den Verlust ihrer Familie - deren Liebe sie nie selbst spüren konnte - auszugleichen.« Vermutet wird, dass Afraas Mutter kurz nach der Geburt unter den Trümmern starb. Auch ihr Vater und ihre vier Geschwister kamen bei der Katastrophe ums Leben. Das Mädchen selbst blieb fast unversehrt.

Hunderte leiden am Crush-Syndrom

Viele Kinder im Nordwesten Syriens kämpfen bis heute mit den Folgen des Bebens - auch die Kinder von Mundaser Ghanam aus dem schwer getroffenen Asamarin nahe der Grenze zur Türkei. »Einer meiner Söhne ist gestorben, meine anderen drei Kinder und meine Frau haben schwere Verletzungen in den Beinen erlitten«, sagt Ghanam. »Wir haben mehrere Operationen vornehmen lassen, aber auch ein Jahr nach dem Beben leiden wir noch immer sehr«, fügt er hinzu.

All seine Kinder litten unter dem Crush-Syndrom, wobei aus gequetschten Muskeln Eiweißklümpchen austreten, die die Niere verstopfen, was rasch zum Nierenversagen führen kann. Es sammeln sich giftige Substanzen im Blut an, die normalerweise mit dem Urin ausgeschieden werden. Mit einer Dialyse (Blutwäsche) im frühen Stadium kann sich die Niere wieder erholen. Nach Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden wurde bei Hunderten der verletzten Menschen das Crush-Syndrom diagnostiziert, die genaue Zahl ist nicht bekannt.

»Versuchen, unsere Kinder glücklich zu machen«

Ähnlich wie die Kinder von Ghanam fürchten sich auch Afraa und ihre neuen Geschwister seit dem Beben in geschlossenen Räumen - insbesondere, wenn es regnet, blitzt und donnert. »Wir schlafen an solchen Tagen nicht im Haus, sondern gehen zurück in die Zelte, die wir noch aus den Tagen nach den Beben haben«, sagt der Adoptivvater der Einjährigen. Er selbst ist nur zwei Tage nach Afraas Geburt selbst erneut Vater geworden. »Wir haben an den Geburtstagen der beiden Kleinen viel verloren, aber wir werden immer versuchen, unsere Kinder glücklich zu machen und ihnen dabei zu helfen zu vergessen, was an dem Tag passiert ist«, sagt Sawadi.

© dpa-infocom, dpa:240202-99-842807/4