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Debatte über »Woke-Sein« und Cancel Culture

Linke Identitätspolitik hat den Anspruch, den Blick für Diskriminierung zu schärfen und Minderheiten eine Stimme zu geben. Kritiker werfen der Bewegung jedoch vor, ebenso wie Rechtspopulisten die Demokratie zu untergraben.

Dieter Nuhr
Der Kabarettist und Comedian Dieter Nuhr hält nicht viel vom Gendern. Foto: Marcel Kusch
Der Kabarettist und Comedian Dieter Nuhr hält nicht viel vom Gendern.
Foto: Marcel Kusch

Der 62 Jahre alte weiße Mann Dieter Nuhr ist gegen gendergerechte Sprache. Seine Haltung bringt ihm neben dem einen oder anderen Shitstorm auch Unterstützung ein: Am Montag war der Kabarettist prominentester Teilnehmer eines Berliner Kongresses mit dem Thema »Wokes Deutschland - Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?«. Dort berichtete er, dass er von den Medien oft niedergeschrieben und als reaktionär hingestellt werde, auf der Straße aber immer nur Unterstützung erfahre.

Seine Schlussfolgerung: Die veröffentlichte Meinung der Berliner Blase habe mit der Mehrheitsmeinung draußen im Lande kaum noch etwas zu tun. »Da gibt's ein inkonsistentes ideologisches Gewaber, was die öffentliche Meinung übernommen hat, und das trifft auf eine Bevölkerung, die fassungslos davorsteht.« So finde die Genderdebatte in der Realität gar nicht statt. »Ich bin im normalen Leben noch nie gefragt worden, mit welchem Pronomen ich angesprochen werden möchte.«

Organisiert wurde die Veranstaltung von der Denkfabrik Republik21 für »neue bürgerliche Politik«. Mitinitiator ist der Berliner Islamismus-Experte und Psychologe Ahmad Mansour. Er kritisierte auf dem Kongress, es sei mittlerweile schwer, konkrete Probleme in Zuwanderergruppen überhaupt noch anzusprechen, weil dies von vornherein als rassistisch hingestellt werde. Die Geldgeber von Integrationsprojekten wollten solche Themen von vornherein vermeiden, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Seine Haltung sei jedoch: »Wer mich vor meinen Kritikern schützen will, hält mich für ein Kleinkind, hält uns Migranten für Leute, denen man nicht auf Augenhöhe begegnet. Und das ist nichts anderes als Rassismus.«

Wieviel woke darf es denn sein?

Der aus den USA stammende Begriff »woke« bedeutet so viel wie »wach sein« und bezog sich anfangs allein auf rassistische Diskriminierung. »Stay woke!« hieß so viel wie: »Schau hin und tu was, wenn Schwarze schlecht behandelt werden!« Im Laufe weniger Jahre erweiterte sich die Bedeutung auch auf andere Minderheiten. Zuletzt lag der Fokus stark auf Transmenschen.

Wer sich heute in Deutschland dazu bekennt, »woke« zu sein, hat den Anspruch, einen geschärften Blick für Ungerechtigkeiten aller Art zu haben. Unter Umständen fallen dann Dinge auf, die vorher nie infrage gestellt worden sind. Zum Beispiel: Warum läuft im Fernsehen ganz viel Männer- und nur sehr wenig Frauensport?

Zum »Woke-Sein« gehört meist auch das Gendern. Der emanzipatorische Ansatz dahinter ist, dass Frauen - und Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen - so lange benachteiligt worden sind, dass sie jetzt ein Recht darauf haben, deutlich sichtbar und gehört zu werden.

Cancel Culture und Spaltung der Gesellschaft

Der vielzitierte alte weiße Mann steht hingegen für jene Gruppe, die nie aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe diskriminiert wurde. Deshalb soll er jetzt erstmal still sein, denn er hat jahrhundertelang fast als Einziger geredet. Als zunehmend kritisch wird dabei auch gesehen, wenn gutwillige alte weiße Männer versuchen, sich in Angehörige von Minderheiten hineinzuversetzen. Das, so heißt es oft, sei anmaßend, weil es einem dermaßen privilegierten Menschen sowieso nicht gelingen könne.

All das halten die Mitglieder von R21 für problematisch. Rödder, zurzeit Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington, meint: »Die Verhältnisse in den USA sind zwar nicht automatisch eine Blaupause für die Entwicklung in Deutschland, aber die Parallelen sind kaum zu übersehen.« Er erlebe selbst, wie in den Schulen an der Ost- und Westküste die Vorstellung verbreitet werde, dass Weiße strukturell rassistisch seien und die ganze bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung auf Diskriminierung beruhe. »Das sickert längst auch ein in die Diskurse in Europa und Deutschland.«

Offensichtlich sei dies etwa in der Wissenschaft. Ein Beispiel ist für ihn die junge Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, die dieses Jahr an der Humboldt-Universität in Berlin in einem Vortrag aussprechen wollte, dass die Biologie nur zwei Geschlechter kenne. Dies führte zu Protesten - auch weil Vollbrecht einen »Welt«-Beitrag mit dem Titel »Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren« mitverfasst hatte. Darin hieß es etwa, Aktivisten mit einer »'woken' Trans-Ideologie« unterwanderten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Vollbrechts Vortrag wurde daraufhin von der Universität zunächst wegen Sicherheitsbedenken gestrichen, dann aber nach heftiger Kritik nachgeholt. »Das Entscheidende ist das Signal, das davon ausgeht«, sagt Rödder. »Es schüchtert ein. Andere werden sich künftig zweimal überlegen, ob sie solchen Ärger riskieren wollen.«

Kritiker sprechen hier von Cancel Culture, also von einer Ächtungskultur, die sozialen Ausschluss bewirken will. Dagegen wird unter anderem angeführt, dass es auch zahlreiche Beispiele für rechte Cancel-Kampagnen gebe. So wurde 2019 das sogenannte »Umweltsau«-Lied des WDR-Kinderchors, das mangelndes Umweltbewusstsein von Älteren anprangerte, nach einem massiven Shitstorm gelöscht. Ein anderes Gegenargument ist, dass offene Gesellschaften ihre Werte ständig neu verhandelten. Einiges könne dann irgendwann nicht mehr gesagt werden, anderes, was vorher vielleicht mit einem Tabu belegt war, schon. So konnte man sich vor 30, 40 Jahren noch offen abschätzig über Homosexuelle äußern. Heute ist das kaum noch möglich - und das ist sicherlich auch gut so.

Diskussionen sollten möglich sein

Rödder - der auch am neuen CDU-Grundsatzprogramm mitschreibt - betont, dass er selbstverständlich für Rücksicht und bürgerlichen Anstand etwa im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten wie Transmenschen eintrete. Nicht in Ordnung sei dagegen, Diskussionen von vornherein mit der Begründung abzublocken, Betroffene könnten sich dadurch verletzt fühlen. »Ich halte es zum Beispiel für absolut geboten, darüber zu sprechen, warum heute so viele Mädchen einen Geschlechtswechsel wünschen. Eine kontroverse Diskussion dieses gesellschaftlichen Phänomens muss möglich bleiben - alles andere wäre absurd.«

Ebenso dürfe das Gendern nicht zum Zwang werden. »Sprachliche Sensibilität ist immer richtig, sprachliche Vorschriften sind nicht akzeptabel. Ich erlebe es an der Uni, dass gesagt wird: 'Wer nicht gendert, ist rechts.'«

Eine kritische Anmerkung zu dem Kongress kam von René Pfister, »Spiegel«-Korrespondent in den USA und Autor des Buchs »Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht«. Er verwies darauf, dass zu dem Kongress ausschließlich Panel-Teilnehmer eingeladen worden seien, die linke Identitätspolitik kritisch sähen - so wie er selbst auch. »Spannend ist, wenn man in solche Diskussionen Leute reinholt, die sagen 'Cancel Culture ist ein rechtes Phantasma' oder 'Identitätspolitik ist absolut notwendig'.« Leute mit einer anderen Meinung eben.

© dpa-infocom, dpa:221107-99-414543/9