BERLIN. Die Entwicklung der beiden zunächst in Großbritannien und Südafrika nachgewiesenen Coronavirus-Varianten verdeutlicht Experten zufolge, dass die Überwachung des Erregers dringend ausgebaut werden muss.
Die Varianten seien als »Weckruf« zu sehen, sagte Andreas Bergthaler vom CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Systeme zur Erkennung müssten ausgebaut und koordiniert werden. »Wir dürfen uns nicht in der falschen Sicherheit wähnen, dass wir mit den Impfstoffen schon am Ende des Marathons angekommen sind.«
Wünschenswert sei zur Überwachung von Sars-CoV-2 ein globales Netzwerk von Laboren ähnlich wie bei der Grippe, deren Erreger sich ebenfalls stetig verändere, sagte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Bisher sei man von einem solchen koordinierten Ansatz noch weit entfernt.
In Großbritannien werde bei etwa 5 Prozent der bei Corona-Tests genommenen Proben das Viruserbgut entziffert, in Dänemark bei 12 Prozent, so Bergthaler. In Deutschland seien es vor Auftauchen der Variante B.1.1.7 nur etwa 0,2 Prozent gewesen. Zudem dauere es in vielen Ländern mit weit mehr als zwei Wochen viel zu lange, bis die Daten für eine Auswertung verfügbar seien, ergänzte Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien.
Bei den Varianten B.1.1.7 und 501Y.V2 gebe es eine »bemerkenswerte Konstellation vieler Mutationen«, erklärte er. Sie seien unabhängig voneinander und schon vor längerer Zeit entstanden - dass sie ausgerechnet in Großbritannien und Südafrika bemerkt wurden, sei nicht überraschend: »Beide Ländern sequenzieren vergleichsweise viel.« Darum sei dort aufgefallen, dass der Anteil dieser Varianten plötzlich sehr stark anstieg und diese das Infektionsgeschehen zu dominieren begannen, erklärte Isabella Eckerle von der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf.
Noch sei nicht klar, wie viel ansteckender die Varianten seien. Dass es Großbritannien auch mit Lockdown-Maßnahmen nicht gelungen sei, die Ansteckungsrate deutlich zu senken, lasse aber bei B.1.1.7 Arges auch für andere Länder befürchten: »Wenn sie sich durchsetzt, hätten wir ein Problem.« Schon bei den bisher kursierenden Virusformen zeige sich, dass Maßnahmen oft weniger deutlich griffen als erhofft - auch, weil viele Menschen coronamüder geworden seien und weniger vorsichtig agierten als im Frühjahr vergangenen Jahres.
Noch unklar und nicht zu beurteilen ist Eckerle zufolge, ob die inzwischen auch in Deutschland und vielen anderen Ländern nachgewiesene Variante B.1.1.7 für mehr Ansteckungen unter Kindern sorgt. Keine Hinweise gebe es bisher darauf, dass sie mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verursachen könnte. Viele Fragen zur Biologie des Erregers seien noch offen.
Unklar ist bisher zum Beispiel auch, wie die Varianten mit den ungewöhnlich vielen angehäuften Mutationen überhaupt entstanden. Eine Möglichkeit sei, dass sie in immunsupprimierten Patienten entstanden, die das Virus über Monate trugen und weitergaben, erklärte Bergthaler, Leiter der CeMM-Forschungsgruppe Virale Pathogenese und antivirale Immunantworten. Auch Tiere als Zwischenwirt kämen als Erklärung infrage. »Noch wissen wir nicht, was da der Evolutionsbeschleuniger war.«
Generell sei es ein Dilemma, dass bei B.1.1.7 und anderen potenziell gefährlichen Varianten rasche Entscheidungen zur Gegenwehr getroffen werden müssten, bevor genaue Daten zu den Erregern vorlägen, erklärte Eckerle. Das sei der Bevölkerung nicht immer einfach zu vermitteln. »Wir werden mehr von diesen Varianten sehen in Zukunft«, betonte die Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses. »Immer wieder wird es dann die Frage nach der Reaktion geben.« Noch habe Europa ein paar Monate vor sich, bis die Impfungen wirklich griffen und merklich weniger Menschen empfänglich für Covid-19 seien.
Zumindest sind die laufenden Impfkampagnen nach derzeitigem Stand wohl nicht in Gefahr: Die Impfstoffe deckten sehr wahrscheinlich auch die beiden Varianten ab, erklärte Bergthaler. Darüber hinaus seien RNA-Impfstoffe verhältnismäßig flexibel im Design und leichter anpassbar als herkömmliche Impfstoffe. Entscheidender sei momentan, die Fallzahlen runterzubringen - nicht nur, um einen möglichen Anstieg abzufedern, sondern auch, um das Risiko für die Entstehung weiterer Varianten zu vermindern.
»Die Hauptgefahr, die von den Varianten ausgeht, ist ganz klar die schnellere Verbreitung«, betonte auch Neher. Nicht nur in den nächsten Monaten, auch in den nächsten Jahren werde weiter hohe Aufmerksamkeit und viel Überwachung nötig sein, so Bergthaler. Denn: »Egal was wir machen, wir werden immer ein bisschen im Hintertreffen liegen zu dem, was das Virus macht.« (dpa)